Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ LITERATUR UND KUNST Samstag, 04.12.1999 Nr. 283  85

  

Die Ruine - Vom Baumaterial zur Erzeugung starker Gefühle

Die römischen Ruinen und ihre Betrachter

Von Paul Zanker

Bis in die frühe Neuzeit wurden die antiken Ruinen Roms primär als Steinbrüche genutzt. Erst in der Renaissance erwachte ein spezifisches Interesse an den römischen Bauwerken. Umwidmungen, die Verehrung der Ruine als Kultstätte, diearchäologische Rekonstruktion sind Stichworte zum Bedeutungswandel der antiken Ruinen.

Zu Beginn der Neuzeit lagen die meisten Ruinen des antiken Rom noch weit ausserhalb der eigentlichen Stadt, die auf dem Gebiet des ehemaligen Marsfeldes zusammengeschrumpft war. Diese Lage im unwegsamen «Draussen», in verlassenen, unbewohnten Gegenden und der erschreckende Verfall der noch in ihren Überbleibseln gewaltigen Bauten bestimmten die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Erst in der Renaissance erwachte ein spezifisches Interesse. Unter Künstlern waren es vor allem die mit humanistischem Eifer nach Rom pilgernden Nordländer, die sich von den geborstenen Bauten und zerfallenden Gewölben angezogen fühlen. Sie zeichneten sie, wie sie aus grossen Schutthügeln aufragen beziehungsweise langsam in ihnen versinken: «Roma quanta fuit ipsa ruina docet», steht auf einer der zahlreichen Zeichnungen, die der Niederländer Marten van Heemskerk in den Jahren 1532-35 in Rom anfertigt. Seitdem diese Sentenz im frühen 12. Jahrhundert zum erstenmal bei Ildebertus von Lavardin aufgetaucht ist, ist die Bewunderung untrennbar mit der Wahrnehmung des Verfalls verbunden. Jan Gossaert gen. Mabuse beispielsweise zeichnete das Kolosseum 1509 explizit nahansichtig. Man soll sehen, dass der gewaltige Bau eines nicht allzu fernen Tages bersten wird. «Quamdiu stat colliseus, stat Roma; Quando cadet Coliseus, cadet et Roma; quando cadet Roma, cadet et mundus» lautet eine ebenfalls bereits im frühen Mittelalter entstandene und dem Beda Venerabilis zugeschriebene Weissagung. Die Ruinen sind in dieser Vision zwar ein Garant für die lange Dauer der Stadt, gleichzeitig aber auch für die Vergänglichkeit der Welt. Denn der Coliseus verfiel ja immer mehr, nicht zuletzt, weil er von den Bewohnern Roms seit dem Mittelalter als Steinbruch benutzt wurde.

 

CHRISTLICHE OPTIK

Auf seiten der Gläubigen führte die Ruinenfaszination zwangsläufig dazu, das Verhältnis des untergegangenen Römerreiches zum Christentum zu bedenken. Vor allem auf Bildern der Geburt Christi findet man seit der Wende zum 16. Jahrhundert häufig Ruinen als Hintergrund der Krippe von Bethlehem. Sie erscheinen hier als Zeichen einer überwundenen heidnischen Welt, deren Untergang im Heilsplan vorgesehen war und zumindest ideell mit der Geburt Christi begann. Gleichwohl wird an den sorgfältigen Darstellungen aber auch die tiefe Bewunderung für diese Welt, die Lust an den schönen Formen wie auch die Freude an den kostbaren Marmoren überdeutlich. Diese christliche Sehweise lässt sich bis weit ins 17. Jahrhundert hinein verfolgen. Auf den Stichen des G. B. Mercati von 1629 tauchen hinter den Ruinen die prächtigen Kuppeln der neuen Kirchen als Zeugen für die Erfüllung des Heilsplanes auf. Gleichzeitig begegnen wir hier dem stolzen, in der Gegenreformation gestärkten Selbstverständnis des barocken Rom.

Die Interessen der Renaissancekünstler waren freilich weniger auf diesen universalhistorischen Aspekt der Heilsgeschichte als auf die konkreten Formen der antiken Bauten gerichtet. Man suchte nach den Gesetzmässigkeiten und Regeln der antiken Baukunst, um diese dann im eigenen neuen Bauen anwenden zu können. Es ging dabei nicht nur darum, von den Alten zu lernen, sondern sie nach Möglichkeit zu übertreffen. Die Dimensionen der Gewölbe von Sankt Peter sind kaum anders zu verstehen. Hand in Hand mit dem genauen Zeichnen und Vermessen gingen bereits damals die Versuche, die zerstörten Bauten wenigstens in der Vorstellung und im Bild wiederherzustellen. Diese im besten Sinne archäologischen Bemühungen der Renaissancekünstler und -architekten begründen eine Tradition, die später im Zeitalter des Historismus ihren Höhepunkt erreichte und in den Computersimulationen der Gegenwart wieder auflebt.

 

DAS RECYCLING DER PÄPSTE

Die Bewunderung für die Baukunst der Alten hat dem Abbruch der Monumente leider keinen Einhalt bieten können, im Gegenteil. Die Wiederverwendung kostbarer Baumaterialien wie Säulen, Kapitelle, Architrave begann schon in der Spätantike und dauerte durch das ganze Mittelalter hindurch an. Dieses gewaltige Recycling erlebte mit der Bautätigkeit der Renaissance und der Barockzeit eine neue Dimension. Viele der zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch halbwegs aufrecht stehenden Bauten wurden im Laufe weniger Jahrzehnte als Baumaterial verbraucht. Dabei ging es nicht nur um die Marmorteile, sondern auch um die schieren Baumaterialien aus Tuff und Travertin. Viele Ruinen erlebten so eine Art Metamorphose, ihre Glieder und Teile leben in zahlreichen Kirchen und Palästen fort.

Noch Sixtus  V. lässt 1588 den ansehnlichen Rest der säulenreichen Ruine des Septizodium abreissen, um die Baumaterialien wiederverwenden zu lassen. Andererseits engagierten sich die Päpste seit dem 15. Jahrhundert immer wieder und immer entschiedener für die Erhaltung der Monumente und Ruinen, erliessen strenge Bestimmungen, ernannten Antikenaufseher und finanzierten Restaurierungen und Freilegungen. So liess derselbe Sixtus V. das Häusergewirr um die Trajans- und Marcus-Säule abreissen und präsentierte sie so als zentrale Platz-Monumente. Man hat dieses widersprüchliche Verhalten der Päpste oft getadelt. Es wird verständlicher, wenn man es unter dem Aspekt der «Auswahl des Wertvollsten» auf der einen und des «Aufräumens» der unwirtlichen Ruinenplätze der «luoghi disabitati» im Rahmen einer sich vergrössernden und verschönernden Stadtlandschaft auf der andren Seite sieht.

Sicherster Schutz für die Ruinen war ihre Wiederverwendung als Kirchen, Festungen, Klöster, Gärten. Das Pantheon blieb bekanntlich nur deshalb so vollkommen erhalten, weil es bereits im 8. Jahrhundert als Kirche konsekriert und als Aufbewahrungsort der aus den Katakomben geborgenen Reliquien der Märtyrer bestimmt wurde. Die Umwidmung der verfallenden antiken Bauten ist ein eigenes, unterhaltsames Thema. So diente das Mausoleum des Augustus nacheinander als fürstlicher Garten, als Stierkampfarena und zuletzt bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein als Konzertsaal. Erst im Zuge des urbanistischen Programms der Faschisten wurde es zu einem Monument seiner selbst im Rahmen der neuen Staatsideologie umgewandelt und dabei leider zu einem ausgesprochen toten Ort im Stadtbild.

Besonders interessant sind die ideologisch motivierten Umwidmungen oder Präsentationen: Das Kolosseum wird, nachdem es als Burg, Salpeterfabrik, Einsiedelei und Aufenthaltsort der Obdachlosen und Freudenmädchen gedient hat, seit dem 17. Jahrhundert als Ort der Hinrichtung der Märtyrer neu entdeckt. Vom archäologischen Standpunkt aus betrachtet, ist es nicht allzusehr zu bedauern, dass das grossartige Kirchenprojekt Carlo Fontanas (um 1720 unter Clemens XI.) nicht verwirklicht wurde. Aber der Plan hatte einen faszinierenden Zuschnitt: Mitten in der nördlichen Krümmung der Ellipse der Arena sollte sich eine stattliche barocke Kuppelkirche erheben, wobei die Ruine selbst als gigantischer Rahmen an den Ort der Martyrien erinnert hätte. Bald darauf wurde die Arena dann auch ohne Kirchenbau konsekriert und mit den Stationen der Via Crucis versehen. Das entsprechende Ritual lebt bis heute fort, wenn der Papst am Vorabend des Karfreitags feierlich zum Kolosseum zieht.

 

RUINENBESUCHER

Rom weitet sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts mit seinen Villen und Gärten langsam in die Ruinenlandschaft hinein aus, in der bis dahin nur die grossen Hauptkirchen als vereinzelte Grossbauten gelegen hatten. Die Bautätigkeit der Päpste und der mit diesen unmittelbar verbundenen grossen Adelsfamilien führte zur Anlage neuer prächtiger Kirchen, Paläste und vor allem auch von Villen. Die Peripherie des alten Stadtkerns verwandelte sich in eine Garten- und Parklandschaft. Die Ruinen und Monumente werden darin als «Sehenswürdigkeiten» gleichsam ausgestellt. Bewundernd stehen die immer zahlreicher werdenden Reisenden aus England und den anderen Ländern nördlich der Alpen vor den Ruinen. Es bildet sich ein Kanon der berühmtesten Monumente und Ruinen heraus, nach dem sich der ritualisierte Ruinenbesuch der Fremden richtet. Gleichzeitig entsteht zum erstenmal eine Andenkenindustrie, die der Erinnerung an die Höhepunkte der Grand Tour in Rom dient. Man hat in diesem Reisebetrieb des europäischen Adels und seiner Trabanten, der Künstler, Gelehrten, Antiquare, Kunsthändler und Restauratoren, nicht zu Unrecht eine elitäre Vorform des modernen Tourismus gesehen. Trotz der Ähnlichkeit mehrerer Verhaltensrituale waren die Einstellungen und Erwartungen, zumindest was die Ruinen betraf, jedoch sehr verschieden.

Was die Rombesucher im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert vor allem faszinierte, war die harmonische Symbiose von Ruine und Natur. Die Künstler konnten sich nicht genugtun, sich die Schönheit der überwachsenen und langsam in die Landschaft zurücksinkenden Gemäuer vor Augen zu führen. Die ärmlichen Hirten werden auf den Bildern zu Bewohnern eines glücklichen Arkadien, die die Besucher in ihre zeitlose Welt einladen. Das Neue dieser Ruinenerfahrung liegt im Gegensatz zu früher ganz im individuellen Fühlen und Erleben. Die Ruinen werden zu einer Art Katalysator für das Ausleben der eigenen Empfindungen und Stimmungen. Dabei kann der Anblick des zeitlosen, immerwährenden Verfalls die persönlichen Existenzprobleme des Einzelnen relativieren und mildern. Die Ruinen können den Weltschmerz sogar zum Genuss werden lassen.

 

STIMULIERTE PHANTASIE

Bezeichnend für die neue Art des Erlebens ist, dass man den Ruinenbesuch gern mittels besonderer Inszenierungen zu steigern versuchte. Besonders beliebt waren die Mondnächte, in denen die Ruinen durch den gestirnten Himmel in eine Ewigkeitsperspektive gerückt wurden. Goethe zeichnet die Cestius-Pyramide im Mondschein. Wie viele andere Rombesucher seiner Zeit liebte er den nächtlichen Besuch des Kolosseums bei Fackelbeleuchtung. Im Halbdunkel verlieren die Formen ihre Klarheit, die Phantasie wird stimuliert, die Räume können sich mit den Gestalten der Geschichte oder der eigenen Träume beleben. Gleichzeitig wird dabei die alte Wahrnehmung des Unheimlichen der «luoghi disabitati» neu belebt, aber jetzt als ein gesuchter Nervenkitzel. Vor dem Hintergrund der Rokoko-Kultur kann die Ruine geradezu zur Droge für die Erzeugung grosser Empfindungen und starker Gefühle werden. Diderot schreibt 1788 den berühmt gewordenen Satz: «Ich glaube, die Ruinen bewirken mehr als wohlerhaltene ganze Denkmäler . . . sie haben etwas Drohendes, und die Hand der Zeit hat in das Moos, das solche Ruinen bedeckt, eine Menge grosser Ideen und schwermütig-süsser Gefühle gestreut. Ich bewundere das unzerstörte Bauwerk; die Ruine macht mich schaudern; mein Herz ist bewegt, meine Einbildungskraft hat mehr Spielraum als sonst.»

Etwa zur gleichen Zeit malt Hubert Robert die «Grande Galérie du Louvre» als Ruine. Auch er will die Einbildungskraft des Betrachters über die Bewunderung des Gegenwärtigen hinausführen. Der von Hitlers Baumeister Speer verwendete perverse Begriff des «Ruinenwerts» hat hier seine romantischen Wurzeln. Er diente als Begründung für die Verwendung konservativer Baumaterialien für die Monumentalbauten des 1000jährigen Reiches!

 

WISSENSCHAFTLICHE AUSGRABUNGEN

Die neue Zeit der wissenschaftlichen Ausgrabungen und der Restaurierung der Ruinen beginnt in Rom früh. Es sind die Franzosen, die sich in den Jahren der napoleonischen Herrschaft und der Absetzung der päpstlichen Regierung der Ruinen und Monumente mit grösster Energie annehmen. Was sie motivierte, ist zum einen die Bewunderung für die römischen Imperatoren - deshalb beginnen sie das Trajans-Forum auszugraben -, zum andern ein neues, aufklärerisches Geschichtsverständnis. Mehrere der berühmtesten Ruinen vor allem am Forum werden durch Abriss der sie umgebenden Häuser und Hütten freigestellt und meist auch schon bis auf ihre Sockel freigegraben. Gleichzeitig begannen Reparaturen und Restaurierungen, vor allem des einsturzgefährdeten Aussenrings des Kolosseums. Eine interessante Episode bleibt die überaus aufwendige, fast vollständige Ausgrabung der Cavea, die sich aufklärerisch gegen die Verwendung als Kultplatz richtet. Konsequenterweise lässt der Papst bei seiner Rückkehr nach Rom 1814 die Ausgrabung sogleich zuschütten und richtet die 14 Kreuzwegstationen wieder her.

Sieht man von dieser religiös bedingten Form der Reaktion ab, so wurden die Ausgrabungen vor allem im Zentrum des antiken Rom auch nach dem Abzug der Franzosen unter den Päpsten und nach 1870 verstärkt vom Königreich weitergeführt. Die natürlichen Ruinen werden durch die systematischen Ausgrabungen in ihrer Qualität völlig verändert. Ihrer ursprünglichen Aura beraubt, treten sie jetzt in eine neue Phase ihrer Existenz ein: werden Teil eines Ausgrabungsareals und wie die anderen Funde nach und nach Dokumente ihrer selbst. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind grosse Teile des Forum Romanum und des Palatins vollständig freigelegt. Das Ganze bietet sich jetzt als ein archäologisches Operationsfeld ohne jeden ästhetischen Anspruch dar. Die Erde hat sich mitten in der Stadt aufgetan, man schaut mit dem sachlich konstatierenden Blick des distanzierten Forschers in ihre bislang verschütteten Keller hinab. Was den Ideal-Typus des Besuchers anbelangt, so beherrscht jetzt der bürgerliche Bildungsreisende mit klassischem Gymnasialabschluss die Szene, der sich mit Hilfe ausführlicher Anleitungen in das Studium der Überreste vertieft und dabei die grossen Ereignisse und Gestalten memorieren kann, die sich an den berühmten Orten abgespielt haben.

Die Archäologen standen angesichts der Totalausgrabung einer so grossen Raumeinheit, wie es das Forum Romanum darstellt, von Anfang an vor letztlich unlösbaren Problemen: Welche Epoche soll man bei der Ausgrabung und in der Präsentation privilegieren, Republik, Kaiserzeit, Spätantike? Wie macht man Umbauphasen und ähnliches kenntlich? Man kann nicht alles erhalten, so wird vieles abgetragen, was man späterhin bedauert, anderes, vor allem die archaischen Perioden, bleibt von wenigen Ausnahmen abgesehen unausgegraben, anderes wird wieder zugeschüttet. Jede Ausgrabung führt zwangsläufig zu einer Manipulation des Dokumentes, dessen Erhaltung doch oberstes Ziel ist. Gleichzeitig bemüht man sich, dem Besucher mittels Teilrekonstruktionen Lesehilfen zu bieten und gleichzeitig das besonders Gefährdete durch Schutzdächer zu erhalten. Der Kampf gegen den Verfall der Ruinen beginnt gleichzeitig mit dem wissenschaftlichen Studium.

Nachdem Rom zur Hauptstadt des vereinigten Italien geworden ist, werden die grossen Parklandschaften innerhalb der Aurelianischen Mauern in wenigen Jahrzehnten vollständig überbaut. Dabei gehen viele kostbare Reste endgültig verloren. Die berühmteren Ruinen bleiben zwar meist erhalten, aber Häuser und Strassen umzingeln sie. Sie müssen geschützt und erhalten werden, das erfordert die neue, wissenschaftliche Moral. Man umzäunt sie, dabei werden sie in neuer Weise zu unzugänglichen und unbesuchten Orten. In ihren Käfigen verlieren viele von ihnen den letzten Rest historischer Aura, zumal man wegen der fortgesetzten Reparaturen und Ergänzungen oft kaum mehr zwischen «alt» und «neu» unterscheiden kann.

 

FASCHISTISCHE INBESITZNAHME

Mitten in diese moderne Verwissenschaftlichung der Ruinen platzten die brutalen Eingriffe Mussolinis. Die Ruinen wurden dabei in einer bisher unbekannten Weise sichtbar gemacht und gleichzeitig als bedeutungsvolle Blickachsen und symbolische Kulissen benutzt. Im Zentrum des faschistischen Bauprogramms standen die grossen Aufmarschstrassen, allen voran die bezeichnenderweise Via dell'Impero getaufte Achse, die über die ehemaligen Kaiserfora vom Kolosseum zur Piazza Venezia führt, wo der Duce zu den Massen zu sprechen pflegte. Das faschistische Bauprogramm schliesst, was die ideologische Benutzung und Inszenierung der Ruinen anlangt, durchaus an frühere Vorstellungen an. Aus dem nostalgisch bewundernden Blick auf die grosse Vergangenheit wird dabei freilich ein politischer Appell für die Gegenwart: das Rom der Cäsaren als Vorbild für das Regime.

Viele der Ruinen-Prospekte wurden im Rahmen des faschistischen Programms erst als solche geschaffen, aus dem Konglomerat der Jahrhunderte herausgeschält und mit suggestiven Zutaten aufgeputzt. Nicht wenige der inzwischen fast authentisch aussehenden Prospekte sind in Wirklichkeit raffiniert placierte Kunstruinen. Die grossflächigen Freiräumungen, von denen die meisten Archäologen zunächst begeistert waren, dienten freilich weniger der Erkenntnis als der Schaffung symbolträchtiger Stadtbilder. Dabei scheute man sich nicht, ganze Stadtviertel des mittelalterlichen und barocken Rom niederzureissen. Wäre nicht der Krieg dazwischen gekommen, wären noch weitere Teile des heutigen Marsfeldes den «Pickeln des Regimes» zum Opfer gefallen, nur um auch die Reste des Pompejus-Theaters in einer öden Ausgrabungslandschaft den grossen Renaissancepalästen gegenüberzustellen. Auch für den Archäologen ergibt sich aus der Distanz betrachtet eine mehr als zwiespältige Bilanz. Einerseits haben die Operationen zu einer enormen Vermehrung und zu einer bis dahin unbekannten «Ausstellung» der Ruinen und archäologischen Denkmäler im Stadtbild geführt. Dem steht allerdings die endgültige Vernichtung vieler archäologischer Daten, Zeugnisse und auch ganzer Bauten gegenüber, die teilweise durch die ideologisch bedingte Fixierung auf die römische Kaiserzeit, vor allem aber durch den enormen Zeitdruck, dem die Archäologen ausgesetzt waren, verursacht wurde.

 

GEGEN DEN RUINENZERFALL

Ruine und Verfall, für frühere Generationen waren das Synonyme. Die Wahrnehmung der Vergänglichkeit bestimmte jede Ruinenerfahrung, es war immer auch eine Erfahrung der Endlichkeit der Welt und der Sterblichkeit des Menschen. Das hat sich inzwischen fast ins Gegenteil verkehrt; heute beherrschen die Restauratoren das Feld. In immer kürzeren Abständen werden die Monumente durch riesige Gerüste den Blicken entzogen. Dahinter versuchen die Restauratoren wie in Operationssälen dem Verfall Einhalt zu gebieten, Fehlendes zu ersetzen, Labiles zu verstärken, Gefährdetes prophylaktisch zu sichern, vor allem immer wieder zu waschen und zu putzen. Die Ruinen müssen erhalten bleiben, es gilt den Status quo zu konservieren. Die verfallende Ruine ist ein Ärgernis, dem man wehren muss. Natürlich hängt dies letztlich auch mit der Verbannung von Krankheit und Tod aus unserer Gesellschaft zusammen. Dass der Verfall, vor allem der Marmore durch den sauren Regen schneller denn je voranschreitet und dass auch das ständige Restaurieren dazu beiträgt, versteht sich von selbst. Es geht um die Wahrnehmung beziehungsweise um das Nichtwahrnehmenwollen des Verfalls. Wir haben es hier mit einem faszinierenden Phänomen zu tun. Das Verhüllen und Enthüllen der Ruinen und die Präsentation der hell geputzten Fassaden sind zu einem Ritual geworden, das man auch in vielen anderen Bereichen beobachten kann, wo es um die Erhaltung und Präsentation von historischen Monumenten und Kunstwerken geht. Die Restauratoren sind die Diener dieses neuen Kultes, ihre den meisten Lesern unverständlichen chemischen Formeln eine hermetische Kultsprache, die in den Katalogen immer grösseren Raum einnimmt. Ich will nicht übertreiben, aber es scheint mir klar, dass wir es mit einer Art von kollektiver Reaktion auf die immer schneller sich verändernde und immer unterschiedslosere Umwelt zu tun haben. Einem Versuch, im historischen Monument so etwas wie Tradition und Identität zu erhalten, wobei schwer zu sagen ist, wieweit es sich dabei noch um das Bedürfnis nach konkreter historischer Erinnerung und nicht um eine neue Form von Fetischismus handelt.

 

Überarbeitete Version eines Vortrags, den der Autor bei der Entgegennahme des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim vor kurzem gehalten hat. 

 


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