Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

Die astronomischen Weltbilder der Griechen und Römer

Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543), Galileo Galilei (1564 - 1642), Johannes Kepler (1571 - 1630) und Isaac Newton (1643 - 1727) trugen als Begründer des neuzeitlichen Weltbildes wesentliche Erkenntnisse zur Ordnung und Bewegung des Universums vor: die Sonne als Zentrum des Planetensystems, die Rotation der Erde um ihre eigene Achse, die elliptischen Umlaufbahnen der Planeten und die das Universum gleichsam bindende Gravitation.

In Antike und Mittelalter sah man die Verhältnisse anders. Zwar hatte der griechische Astronom Aristarchos von Samos (um 310 - 230 v. Chr.) die Sonne in das Zentrum der Welt gerückt, jedoch die alte, auch vom Philosophen Platon (427 - 347 v. Chr.) gelehrte und dann von Claudius Ptolemaios (um 100 bis um 170 n. Chr.) perfektionierte Vorstellung, die Erde sei unbeweglich der Mittelpunkt des Universums, sollte schliesslich in Spätantike und Mittelalter die Oberhand gewinnen und die allgemeine Gültigkeit behaupten. Sie vertrug sich auch am ehesten mit der Genesis, dem biblischen Schöpfungsbericht, nach dem Gottvater zuerst die Erde und dann die Himmelskörper geschaffen hatte.

Etwas Ähnliches aber naturphilosophisch weit hintergründiger als die biblische Genesis, ist jener Dialog Platons, in dem ein gewisser Timaios auftritt und in einer Rede seine Lehre von der Entstehung und Zusammensetzung der Welt darlegt. Wahrscheinlich war er ein Pythagoreer, die glaubten, die Sterne seien Götter und die Planetengötter beeinflussten das Menschenschicksal. Vor allem nahmen die Pythagoreer an, der Weltenschöpfer habe das Universum nach Zahlen und einem geometrischen Muster geordnet, aus denen der Kreis und die Kugelgestalt als Letztes und Vollkommenstes resultiert (Platon, Tim. 33a - 34a). Der Astronomiehistoriker Bartel L. van der Waerden fasste die aus dem "Timaios" resultierende Weltvorstellung wie folgt zusammen: "In der Mitte des Weltalls sitzt, unbeweglich, die kugelförmige Erde. Um sie herum bewegen sich die Planeten und Fixsterne mit regelmässigen Kreisbewegungen. Die Fixsterne haben nur ihre tägliche Bewegung. Jeder Planet aber hat zwei Bewegungen: eine täglich völlig gleichmässige Drehung um die Nordsüd-Achse, die den Himmelskörpern gemeinsam ist, und eine entgegengesetzte langsamere der einzelnen Planeten, jeder in seiner eigenen Kreisbahn. Diese Kreisbahnen liegen schief zur Ebene des Äquators. Sie liegen alle sieben ungefähr in der Ebene der Ekliptik, aber sie können etwas davon abweichen."

Dieser Schau des bewegten Universums entsprechen u. a. auch die Verse 469 - 559 der "Phainomena" des Aratos von Soloi (um 310 - 245 v. Chr.), in denen er die Himmelskreise beschreibt, als letzten den "Kreis der Tiergestalten" (Ar. 544). Es ist der sich schräg über den Himmelsglobus ziehende Zodiakus mit den zwölf Sternbildern, durch die sich Sonne, Mond und Planeten scheinbar bewegen - scheinbar deswegen, weil wir in Wirklichkeit mit der sich um die eigene Achse drehenden Erde um die Sonne "kreisen" und wie in einem Raumschiff an diesen Bildern vorbeiziehen.

Um dem Leser ein Sehhilfe zu geben, haben wir zwei Planisphären (in die Fläche projizierte Himmelsgloben) gezeichnet. In Illustration 1 sieht man die Erde als Mittelpunkt des Universums, darumherum die kreisförmigen Bahnen der Planeten und aussen den Gürtel des Zodiakus als Teil des Fixsternenhimmels, der, wie die Illustration 2 verdeutlichen soll, schief zur Achse des Universums verläuft. In den Mittelpunkt des Ganzen soll sich der Mensch als Betrachter des Sternenhimmels versetzen. Er wird dann auf der Erde stehen und, nach Süden schauend, die Bilder am Äquator-Horizont links im Osten auf und rechts im Westen absteigen sehen, so wie die Griechen, für die es das Meer war, aus dem sie kamen und in das sie versanken.

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Illustration 1

Geozentrisches Planisphärium mit Tierkreis im Fixsternhimmel, innen die Planetenbahnen und die Erde als Zentrum.

Durch die scheinbare Bewegung der Sonne im Tierkreis während der 12 Monate des Jahres ergeben sich an den Schnittpunkten mit den horizontal liegenden Kreisen die Solstitien (Tiefstand und Höchststand der Sonne am 21. Dezember und 21. Juni) und Äquinoktien (Gleichstand der Tage und Nächte am 21. März und 23. September) und mit ihnen die Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

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Illustration 2

Diese Zeichnungen haben wir aus mittelalterlichen Handschriften übertragen, die das astronomische Weltbild der Griechen in lateinischen Übersetzungen und Kommentaren überliefern. Ein bedeutender Lateiner ist Calcidius. Er war möglicherweise Christ und um das Jahr 400 im Umkreis von Mailand tätig - ein Neuplatoniker. Er übersetzte einen Grossteil von Platons Dialog "Timaios" (17A - 53C) aus dem Griechischen und liess ihm einen Kommentar folgen, in dem die Diagramme zu finden sind, von denen die Rede war. Die Calcidius-Handschriften enthalten noch andere Diagramme mit Darstellungen astronomischer Probleme. Eines davon zeigt die Planetenbahnen ... nicht konzentrisch, sondern exzentrisch, aus dem Mittelpunkt gerückt. Es ist die Darstellung der Exzentertheorie, die zu erklären versucht, weshalb Sonne, Mond und Planeten sich einmal der Erde nah (im Perigäum), ein andermal fern (im Apogäum) befinden. Ein anderes Diagramm will uns erklären, wie die Bewegungen der Planeten, die ja im Gegensatz zur pythagoreisch-platonischen Theorie nicht gleichförmig verlaufen, sondern einmal rechtläufig (in der Progressio), dann aber wieder rückläufig (in der Retrogradatio) sind, dennoch kreisförmig erklärbar werden. Das Phänomen koordiniert Calcidius mit der Epizykeltheorie, die einer grossen, kreisförmigen Umlaufbahn einen kleinen Kreis aufsetzt, dessen Drehung auf dem grossen Kreis den Planeten dergestalt mitträgt, dass er einmal vor, einmal aber hinter dem Mittelpunkt des Auf-Kreises liegt. Diese Theorie lehrt auch Claudius Ptolemaios in dem um 150 n. Chr. verfassten Almagest. Erst die Keplerschen Gesetze lösten sie ab.

Neben Calcidius war es Ambrosius Theodosius Macrobius, wahrscheinlich im Jahre 430 römischer Stadtpraefekt, dessen Kommentar zu einem Werk des Philosophen, Staatsmannes und Dichters Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v. Chr.) im Mittelalter noch weitere Verbreitung fand: dem "Somnium Scipionis" (Traum des Scipio Africanus). Cicero trug im VI. Buch "De re publica" (Über den Staat) - ähnlich dem Mythos vom Kosmos als Spindel mit acht Wirteln am Schluss von Platons "Staat" (Politeia 616e - 617d) - einen Traum vor, in dem der Mensch, vom erdgebundenen Geist befreit und in die Sphären entrückt, den Tempel Gottes (Universum) sieht und die Erde als den Mittelpunkt dieses Tempels. Seine Konstruktion hält sich in neun Kreisen, dem Fixsternhimmel, den sieben Planeten und der mittleren Erde, die bewegungslos ist. Aus den Kreisbewegungen der Planeten entstehen, durch ihre Abstände bedingt, verschieden hohe Töne - die Sphärenmusik. Durch die Bewegung der Planeten wird auch die Zeit messbar. Zeit vergeht, aber gegen die Vergänglichkeit der Zeit steht nun der Gedanke an die Unsterblichkeit der Seele und ein damit verbundener Gottesbeweis, der wieder auf der Bewegung des Universums fusst: alles Endliche hat seine Bewegung von einem anderen empfangen, nur das Unendliche bewegt sich selbst und immer, für dieses Prinzip gibt es keinen Ursprung (Cicero, De re publica Vl, 25 (27)).

Die Handschriften mit dem Kommentar des Macrobius zum "Somnium Scipionis" enthalten fast die gleichen "Weltbilder" wie die Calcidius-Kommentare. Die für das Mittelalter entscheidende Edition davon besorgten in Ravenna noch vor dem Jahre 485 der römische Konsul Aurelius Memmius Symmachus und Macrobius Plotinus Eudoxius, letzterer wahrscheinlich ein Enkel des Autors. Rom und Ravenna also, das zur Zeit Theoderichs d. Gr. (471 - 526) Gelehrte wie Boethius (um 480 - 524) sah, waren demnach die Vermittlerinnen antiker Geisteswelt an die Karolinger, die in ihren "Sternstunden" Werke wie die Aratea schufen.

 

 

 

 
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