Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 27.03.1999 Nr. 72  78

 

Falschmünzer oder Umpräger?
Diogenes, der philosophische Clown

Von Kurt Steinmann

 

BildEr sagte zu Alexander dem Grossen, der sich bereit erklärt hatte, ihm jeden Wunsch zu erfüllen: «Geh mir aus der Sonne!» Diogenes, der Denker im Fass, ist indes kein harmloses Original, das sich für belustigende Karikaturen anbietet. Hinter der Maske des Witzboldes steckt ein kühner Querdenker, ein radikaler Tabubrecher.

Hätte Diogenes in unserer Zeit eine Chance, wahrgenommen zu werden? Möglicherweise. Aber nur unter der Bedingung, dass er sein Provokationsinstrumentarium von einst drastisch ausbaut. Wo alle Tabus, seien es religiöse, sexuelle und ökonomische, gefallen sind, hülfe nur mehr der ganz grosse Eklat, der alle Grenzen sprengende Skandal. Indes gingen einige seiner Tabubrüche (öffentliche Onanie, Inzest, Anthropophagie; die beiden letzteren wohl nur in der Theorie) auch nach unseren Massstäben sehr weit.

 

MOLOSSER

Im übrigen würde sich Diogenes, in unser Zeitalter versetzt, pudelwohl fühlen - nein, der Vergleich stimmt nicht. Er war kein Schosshündchen, sondern ein zubeissender Molosser. Als «abenteuerlich böses Maul», wie ihn Jacob Burckhardt nannte, würde er mit giftigem, mitunter schwarzem Humor und freimütigem Spott seine Kritik an unserer Zivilisation vortragen. Es würde ihm höchste Lust bereiten, all die falschen -ismen unserer Welt zu entlarven, unsere Dogmen, Doktrinen, Orthodoxien und Mythologien unter Gelächter zu zersetzen, unsere Konventionen, sinnentleerten Rituale und fraglos hingenommenen Bevormundungen auf ihren Sinn hin abzuklopfen. Nicht nur sein breites Aktionsfeld würde ihn begeistern, sondern er nähme auch mit freudigem Erstaunen wahr, dass sich manches von dem, was er kühn und frech als Alternativen aufgezeigt hatte, in vielerlei Formen verwirklicht hat: bei den Hippies der sechziger und siebziger Jahre, bei den Grünen, den Ökologen, den Kosumverweigerern, den Aussteigern, Staatsverdrossenen und Kirchenflüchtigen, den Naturaposteln und Autonomen. Sie alle könnten sich auf Diogenes als ihren Ahnherrn berufen, gehe es nun um den konsequenten Ausstieg aus der Zivilisation, den radikalen Vorrang der Selbsterfahrung vor der Moral, die Weigerung, sich durch Staat und Gesellschaft weiterhin in die Pflicht nehmen zu lassen, die Ablehnung der etablierten Kultur, des Besitzes, des bürgerlichen Wohllebens und entsprechend die Betonung der Bedürfnislosigkeit, der Autarkie und Autonomie.

Besonders die Blumenkinder der Hippiezeit hätten es Diogenes angetan. Verbunden im anarchischen Grundkonsens, lehnten sie wie er die herrschende Sexualmoral mit Familie und Kindern ab, lebten die geschlechtliche Libertinage und verteidigten die frei gelebte Homosexualität. Ihr beider Vaterland war die Welt - «Ich bin Kosmopolit», antwortete Diogenes auf die Frage nach seinem Heimatort - und ihr Ausdrucksmedium die manchmal heitere, öfter auch schamlose Provokation. Und beider Credo lautete: «Zurück zur Natur!» Dort allein finde der Mensch sein wahres Glück und wahre Freiheit. Diogenes wie die Flower-Power-Generation erprobten neue Existenzformen und bekamen die Repression der Herausgeforderten zu spüren. Nicht erst der Existentialismus knüpfte eine enge Bande zwischen Theorie und Praxis, zwischen Reflexion und Existenz, nein schon Diogenes machte in der Nachfolge des Sokrates die Philosophie zu einer Disziplin der Immanenz, die auf Verbesserung der Lebensqualität abzielte. Er verkörpert exemplarisch die Philosophie als gelebte Ethik.

 

ANEKDOTISCHE ÜBERLIEFERUNG

Unser Bild von Leben und Lehre des Diogenes ist massgeblich, aber nicht ausschliesslich durch die Darstellung im sechsten Buch der Philosophenbiographien des Diogenes Laertios aus der Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts geprägt. Es ist die einzige erhaltene Schrift der Antike zur Philosophiegeschichte und daher sehr wertvoll. Aber diese Vitae philosophorum bieten nicht Philosophiegeschichte in einem neuzeitlichen, historisch-kritischen Sinn, sondern eine schwer entwirrbare Mischung von zuverlässiger Kunde und reiner Konstruktion, von Dichtung und Wahrheit, literarischer Fiktionalität und Stilisierung historischer Realität. Die Informationen darin kleiden sich mit Vorliebe in die Form der Anekdote.

Viele Diogenes-Anekdoten sind schlicht erfunden worden, andere lassen einen historischen Kern erkennen, wieder andere wirken authentisch, obwohl sich das nicht strikt beweisen lässt. Eine grössere Zahl unter ihnen sind Wanderanekdoten, andere gehen auf Komödien, viele auf Erzählgut von Schülern und Enkelschülern des Diogenes zurück. Peter Sloterdijk warnt in seinem Kultbuch «Kritik der zynischen Vernunft» vor der Gefahr, den philosophischen Gehalt dieser fröhlichen Wissenschaft, die auf den esprit de sérieux verzichtet, zu unterschätzen, weil er sich «nur» anekdotisch tradiert hat. Besonders Hegel, der Systematiker, dachte sehr abschätzig über den Erkenntniswert derartiger Überlieferung, die unmethodisch, unsystematisch und bloss narrativ daherkomme. Nietzsche hingegen, eine «anekdotische Natur», schrieb der anekdotischen Kleinüberlieferung des von ihm geschätzten Diogenes Laertios einen durchaus erhellenden Wert zu.

Als leitender Beamter der Münzanstalt von Sinope am Schwarzen Meer soll Diogenes' Vater «Falschmünzerei» betrieben haben und sei deswegen ausgewiesen worden. Auch Diogenes selbst soll sich dieses Delikts schuldig gemacht haben. Doch der bei Diogenes Laertios verwendete Begriff «paracharattein to nomisma» kann mit gutem Grund auch metaphorisch als «Umprägen der - alten - Norm» gedeutet werden. Im Ausdruck «paracharattein to nomisma» findet das Quer- und Alternativdenken des Philosophen in der Tonne eine umfassende und einprägsame Formel. Seine Philosophie erklärt die im Laufe der Zeit entstandenen, allseits anerkannten Normen und Konventionen für ungültig und setzt so an ihre Stelle die ursprünglichen, unverfälschten Lebensregeln. Sokrates bezeichnete seine Tätigkeit, inspiriert vom Beruf seiner Mutter, als «Hebammenkunst», Diogenes, vom Arbeitsfeld seines Vaters ausgehend, als «Umprägen der Münze». Beide beriefen sich dabei auf göttlichen Auftrag.

BildZu den Anekdoten, die wie nur zwei, drei andere das Bild des Diogenes bis in die Gegenwart hinein geprägt haben, gehört die folgende: «Er zündete bei Tag eine Laterne an und sagte: "Ich suche einen Menschen."»

Der Auftritt mit der Laterne ist ein Glanzstück unter seinen Aktionen als Philosophie-Clown. Eine Prise Kabarett findet sich in den meisten seiner Open-air-Demonstrationen. Ihre Eigenart ist das «spudogeloion», die Mischung von Ernstem, das heisst Moralischem, und Lächerlich-Witzigem. Die grosse Mehrzahl der Diogenes-Anekdoten reizt mit komödienspezifischen Mitteln zum Lachen: durch Spott und Situationskomik, derbe Prügeleien und witzige Obszönitäten. Diogenes übernimmt gleichsam Funktionen der alten Komödie, deren einst scharfe Messer im vierten Jahrhundert stumpf geworden waren. Im «berühmten, unflätigen Philosophen zu Athen», wie ihn ein philosophisches Wörterbuch aus dem Jahr 1616 nennt, fand Aristophanes einen späten, würdigen Nachfolger. Auf die Frage, was das Schönste unter den Menschen sei, soll der Kyniker geantwortet haben: «Das freie Wort.» Der «uomo qualunque» Athens dürfte, als er Diogenes am hellichten Tag einen Menschen suchen sah, auf drei sich schnell ablösende Gedanken gekommen sein: «Jetzt ist er endgültig närrisch geworden! Hat Platon Diogenes nicht "den verrückten Sokrates" genannt?» Dann wird er stutzen: «Worin könnte die eigentliche Botschaft hinter diesem Ulk liegen?» Schliesslich wird er zu seinem Schrecken erkennen: «In den Augen des suchenden Laternenträgers bin auch ich kein Mensch - was könnte der Grund sein?» Diogenes würde ihn aufklären: «Weil du nicht Herr über deine Triebe bist und nicht vernünftig im Einklang mit der Natur lebst.» Schon Sokrates hatte im Auftrag des delphischen Gottes einen Menschen gesucht, der in Wahrheit wissend und nicht der blossen Einbildung von Wissen verfallen ist. Sokrates fand keinen ...

 

IMMANENZ

Nach einer anderen, nicht moralischen Deutung sucht Diogenes den Menschen, das heisst die Platonische Idee des Menschen, findet sie nicht und sagt, dass er nur Menschen sehe, sinnlich wahrnehmbare Realitäten.

Diese Auslegung würde gut zum «Universalienstreit» passen, der zwischen Diogenes und Platon ausgetragen wurde: Im Gegensatz zu Platons Überzeugung vom Vorrang der allgemeinen Ideen und ihrer höheren Wirklichkeit sind für Diogenes nur die Einzeldinge wirklich: Für ihn als Nominalisten sind die allgemeinsten Begriffe nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in unserem Intellekt vorhanden, sind blosse Namen: «Als Platon über seine Ideen einen Vortrag hielt und die Begriffe ‘Tischheit’ und ‘Becherheit’ prägte, sagte Diogenes: ‹Was mich angeht, Platon, so sehe ich zwar einen Tisch und einen Becher, eine ‘Tischheit’ aber und ‘Becherheit’ nie und nimmer.› Platon entgegnete: ‹Das ist leicht zu begreifen; denn Augen, mit denen man Becher und Tisch sieht, hast du zwar, aber Verstand, mit dem man ‘Tischheit’ und ‘Becherheit’ wahrnimmt, hast du nicht.›»

Hier behält für einmal Platon in der oft giftigen Keiferei das letzte Wort. Das ist selten genug. In Platon bekämpft Diogenes die Macht der theoretischen Wissenschaft, die durch die sophistische Aufklärung nach Athen gekommen war. Wie Sokrates die Gewinnsucht, Eitelkeit und intellektuelle Aufgeblasenheit der sophistischen Aufklärer tadelte, griff Diogenes, ein übersteigerter Sokrates, Platon, den «nie aufhörenden Zungendrescher», an, in dem er die charakteristischen Merkmale der Sophisten verkörpert sah. Vor allem die Szene bleibt haften, in der Diogenes vor den Augen der Studenten der Akademie Platons Definitions- und Klassifikationswahn ad absurdum führte: «Als Platon definierte: ‹Der Mensch ist ein zweifüssiges, ungefiedertes Lebewesen› und damit Anklang fand, rupfte er einem Hahn die Federn aus, brachte ihn in dessen Unterricht und sagte: ‹Das ist Platons Mensch!› Infolgedessen wurde der Begriffsbestimmung hinzugefügt: ‹Mit platten Nägeln.›»

Der Scherz der Anekdote kulminiert im letzten Wort: Das Kompositum «platyonychos», «mit platten Nägeln», ist natürlich eine Anspielung auf Platon selbst. Dem abstrakten Idealismus Platons setzt der Kyniker den konkreten Realismus des täglichen Lebens entgegen, der Transzendenz die Immanenz, dem Kopf den Bauch, der Wissenschaft die Weisheit, der Analyse das Gelächter, der Begriffshörigkeit die Prägnanz der philosophischen Pointe, der Theorie die Praxis, den luftleichten Gedankengespinsten die Erdenschwere der Tatsachen, der Systematik die Anekdote, dem Ernst den unterminierenden Witz und die gespielte Narrheit.

Diogenes ergötzt, stört und verstört noch heute. Was kann denn Philosophie Besseres leisten?

 

Im Frühjahr 1999 wird im Diogenes-Verlag als Taschenbuch erscheinen: Diogenes, der Philosoph mit der Laterne. Übersetzung der Texte aus Diogenes Laertios mit Vorwort und Anmerkungen von Kurt Steinmann.

 

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