Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

  

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Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


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Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 10.07.1999 Nr. 157  79

 

Die Sprache als Instrument der Weltsicht

Zur Geschichte einer umstrittenen Idee

Von Helmut Gipper

Der Gedanke, dass Wortschatz und Struktur einer Sprache nicht nur das Weltbild ihrer Sprecher, sondern auch deren Denkvorgänge prägen könnten, beschäftigt Philosophie und Sprachwissenschaft schon seit Jahrhunderten. Nach einem Abriss dieser Ideengeschichte setzt sich der folgende Beitrag kritisch mit noch heute vielzitierten

Forschungsresultaten auseinander.

 

Der Begriff «Weltbild» wird zumeist mit einem wissenschaftlichen Weltbild verbunden, also mit Entwürfen kosmischer Zusammenhänge, wie sie von Ptolemäus, Kopernikus, Galilei und Kepler aufgestellt worden sind. Beim Begriff «Relativitätsprinzip» denkt man an Albert Einsteins physikalische Theorie. Wenn auch nur wenige wissen, was damit genau gemeint ist, klingt das Wort doch den meisten vertraut. Was dagegen unter einem sprachlichen Weltbild und einem sprachlichen Relativitätsprinzip zu verstehen ist, das ist weitgehend unbekannt. Und doch handelt es sich um Begriffe, die weit über den Bereich der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie hinaus Bedeutung erlangt haben, aber auch umstritten sind.

Der Grundgedanke des sprachlichen Weltbildes bzw. der sprachlichen Weltansicht ist schon alt, wenn auch noch nicht mit dem modernen Begriff gefasst. Im Ansatz findet er sich schon bei Nikolaus von Kues, Francis Bacon, John Locke, Giambattista Vico, Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder. Seine klassische Formulierung und Einführung in die Sprachwissenschaft hat er aber erst durch den preussischen Staatsmann und Sprachforscher Wilhelm von Humboldt (1767-1835) gefunden. Zu seiner Zeit blieb dies jedoch wenig beachtet.

Trotz der Bemühungen einzelner Sprachwissenschafter wie Heymann Steinthal um Humboldts Werk wurde es erst in den dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts von dem Bonner Sprachwissenschafter Leo Weisgerber erneut aufgegriffen und ausgewertet. Daraus entstand die sprachwissenschaftliche Richtung, die als Neohumboldtianismus bezeichnet worden ist. Über den deutschen Sprachraum hinaus hat sie, mit Ausnahme von Japan und Korea, kaum Einfluss gewinnen können.

Erst in den fünfziger Jahren lenkte die ganz andersartige, von Noam Chomsky entwickelte generative Transformationsgrammatik die Aufmerksamkeit unerwartet wieder auf Humboldt. Chomsky glaubte, sich bei der theoretischen Begründung seiner Syntaxtheorie auf Humboldts Gedanken der erzeugenden Kräfte in den Sprachen berufen zu können. Im Grunde handelt es sich aber um ein «fruchtbares» Missverständnis.

Die These von der sprachlichen Weltansicht wurde dann durch den amerikanischen Amateurlinguisten Benjamin Lee Whorf (1897-1941) wieder ins Gespräch gebracht und durch seine 1956 erschienenen «Selected Writings» unter dem Titel «Language, Thought, and Reality» weltweit bekannt. Auf ihn geht auch die Rede von einem sprachlichen Relativitätsprinzip zurück.

 

WELT UND WORT

Doch zunächst zu W. v. Humboldt: Man darf ohne Übertreibung sagen, dass er der bedeutendste Sprachforscher des 19. Jahrhunderts war. Zu seinen wichtigsten Einsichten gehört die, dass die Sprachen keineswegs nur Verständigungsmittel sind, wie es allgemein angenommen wurde. Vielmehr sind sie Voraussetzung menschlichen Denkens und damit jeglicher Erkenntnis. Eine Vorbedingung hierfür ist, dass jede Sprache die Welt in einer spezifischen Weise gewortet bzw. auf den Begriff gebracht hat. In einem berühmten Zitat hat Humboldt diesen Kerngedanken in einer so unübertrefflichen Weise ausgedrückt, dass dies längere Erläuterungen erübrigt:

 

«Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. Die Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschlichen Geiste zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen, und unabhängig von ihnen, in der Mitte; der Mensch kann sich diesem rein objectiven Gebiet nicht anders, als nach seiner Erkennungs- und Empfindungsweise, also auf einem subjectiven Wege, nähern.» (Gesammelte Schriften, Bd. IV)

Humboldt hatte diese fundamentale Einsicht auf Grund der Erforschung zahlreicher Sprachen gewonnen, aber an keiner die sprachliche Weltansicht konkret nachgewiesen. Dies hat dann Leo Weisgerber am Beispiel der deutschen Sprache versucht: Weisgerbers erstes diesbezügliches Werk trägt denn auch den Titel «Vom Weltbild der deutschen Sprache» (1950). Leider lösten seine Bemühungen einen unnützen Streit aus, weil der sprachliche Weltbildgedanke mit dem ideologischen und durch die politischen Ereignisse in Verruf geratenen Gedanken der Weltanschauung verwechselt wurde. So konnte gerade bei der Beschränkung auf das Deutsche eine nationalistische Absicht unterstellt werden. Dabei gibt Weisgerber mit der Analyse seiner Muttersprache eben nur ein Beispiel, das durch die Untersuchung weiterer Sprachen zu ergänzen wäre.

Unbestreitbar bleibt, dass schon der Wortschatz jeder Sprache kein durch alphabetische Ordnung in Wörterbüchern mühsam geordneter Sandhaufen ist, sondern dass in ihm die sinnlich erfahrbare und geistig gedeutete Welt so geordnet ist, dass er allen Bedürfnissen der Sprecher gerecht zu werden vermag. Dazu kommt die begrenzte Zahl von Satzbauplänen, die Aussagen verschiedenster Art ermöglichen. Es ist nicht schwer einzusehen, dass dadurch auch das Denken der Sprecher unbemerkt, aber unausweichlich in bestimmte Bahnen gelenkt wird, die sich im Vergleich mit den Möglichkeiten anderer Sprachen als sprachspezifisch erweisen. Den untrüglichen Beweis liefert jede Übersetzung. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten deuten auf diese Verschiedenheiten hin. Sie steigern sich mit der Entfernung der Sprachen sowie ihrer Entwicklungsstufe und können im Extremfall an kaum überwindbare Grenzen stossen.

 

DIE ANDERE WELT DER HOPI

Welchen Beitrag hat nun Benjamin Lee Whorf zu unserer Fragestellung geliefert? Vorauszuschicken ist, dass er hauptberuflich zeitlebens Agent einer Feuerversicherungsgesellschaft war. Sein Hauptinteresse galt aber den Sprachen, und ein glücklicher Zufall brachte ihn in Verbindung mit dem bedeutenden Amerikanisten Edward Sapir (1884-1939), der ihn auf die wenig erforschten Indianersprachen und in Sonderheit auf die noch kaum bekannte Sprache des kleinen Stammes der Hopi-Indianer in Arizona aufmerksam machte. Hier fand Whorf nun seine Aufgabe, die ihn zur kühnen Formulierung eines sprachlichen Relativitätsprinzips führte. Er glaubte nämlich nach eingehender Beschäftigung mit dem Hopi entdeckt zu haben, dass diese Sprache eine andersartige Raum-Zeit-Auffassung enthält, die ihre Sprecher zu einer anderen Weltansicht führt. Als Kontrastfolie dienten ihm die indogermanischen Sprachen, die er grosszügig als Standard Average European (SAE) zusammenfasste.

Whorfs Argumente können hier nicht im einzelnen vorgeführt werden. Nur wenige wichtige Thesen seien genannt: Die Raumauffassung schien ihm weniger abweichend als die Zeitauffassung. Auch die Hopi fühlen sich als in einem dreidimensionalen Raum lebend, wenn auch ihre Sprache einige Eigentümlichkeiten in diesem Bereich aufweist, die im Zusammenhang mit der besonderen Lage der Hopi-Pueblos inmitten einer flachen Wüstenlandschaft stehen. Besonders auffällig schienen Whorf die zahlreichen Ausdrucksmöglichkeiten der räumlichen Beziehungen durch besondere Kasus und zahlreiche Lokatoren, also Ortspartikeln.

Weit eigenartiger aber schien ihm die Zeitauffassung. So soll es im Hopi zwar Verben geben, aber keine Tempora zum Ausdruck von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Allerdings verfügt das Hopi-Verb über zahlreiche Möglichkeiten der Vorgangsschilderung, meist durch Suffixe, die man als Aspekte bzw. als Aktionsarten bezeichnen könnte. Angeblich gibt es jedoch auch keine Zeitausdrücke in Form von Substantiven, und Zeitintervalle können nicht wie bei uns mit Kardinalzahlen plus Plural (5 Tage) umschrieben werden, sondern es lässt sich höchstens von einem 5. Tag (also Ordinalzahl plus Singular) sprechen. Auch gibt es im Hopi keine Raum-Zeit-Metaphern wie bei uns, wenn wir von Zeitpunkten, Zeitabschnitten, Zeiträumen usw. reden. Whorf zieht daraus weitreichende Folgerungen. Zum Beispiel meint er, dass physikalische Zusammenhänge mit den Mitteln der Hopi-Sprache ganz anders, aber doch ebenso gut auszudrücken wären.

Erstaunlich ist aber, und dies hat eine scharfe Diskussion entfacht, dass Whorf sich zu einer ungewöhnlich kühnen Folgerung versteigt: «Hence the Hopi language contains no reference to ‹time›, neither explicit nor implicit.» Also kein Zeitbezug im Hopi, weder explizit noch implizit - eine Behauptung, die schon durch das vorher Gesagte widerlegt ist. Weiterhin gelangt Whorf zur Formulierung eines sprachlichen Relativitätsprinzips, wonach das Denken der Menschen relativ ist zu den Sprachen, die sie sprechen, so dass verschiedene Sprachgruppen zu unterschiedlichen Beurteilungen derselben Phänomene gelangen. Diese Auffassung wurde dann als Sapir-Whorf- Hypothese bekannt und führte zu internationalen Konferenzen, an denen Ethnologen, Anthropologen, Psychologen, Philosophen und Linguisten teilnahmen. Die Diskussionen blieben kontrovers und konnten auch zu keinen haltbaren Ergebnissen führen, weil keiner der Beteiligten Hopi-Kenner war und auch niemand den Versuch gemacht hatte, Whorfs Behauptungen an Ort und Stelle zu verifizieren.

 

IRRTÜMER, REVISIONEN

Da ich als Neohumboldtianer an diesem Problem lebhaft interessiert war, wandte ich mich dieser schwierigen Aufgabe zu und nutzte zwei Gastprofessuren in den USA zu Besuchen im Hopi-Reservat. Dort sammelte ich mit Hilfe zweisprachiger Hopi nähere Informationen und kehrte mit Tonbandaufnahmen, zahlreichen Protokollen und einigen zweisprachigen Hopi-Erzählungen nach Deutschland zurück. Hier wurde dann das Material mit Hilfe einer Doktorandin und durch die Mitarbeit eines zu Besuch in Bonn weilenden Hopi-Indianers ausgewertet und überprüft. Die Ergebnisse sind im Buch «Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur Sapir-Whorf-Hypothese» (Fischer, Frankfurt am Main 1972) vorgelegt worden.

Es hat sich herausgestellt, dass Whorf sich an zahlreichen Stellen geirrt hat. Der Hopi-Raum ist dreidimensional mit über 130 adverbialen und substantivischen Ausdrücken im Hinblick auf die Himmelsrichtungen und die Lage im Raum (über, unter, nah und fern usw.) erfasst und erlaubt genaue Ortsangaben. Im zeitlichen Bereich liessen sich mehr als 230 Ausdrücke (Adverbien, Substantive, vielfach verwendbare Suffixe) belegen, die Zeitbestimmungen wie früh und spät, gestern, heute, morgen, Tageszeiten, Tage und Nächte, Sonnenstand, Jahreszeiten und Monate bezeichnen. Das Hopi-Verb unterscheidet zwar hauptsächlich Gegenwart und Zukunft, die Vergangenheit kann aber durch Zusatz von Erzählpartikeln ausgesagt werden. Ausserdem stehen zahlreiche Aspekte und Aktionsarten zur Differenzierung zeitlicher Vorgänge zur Verfügung. Zeitintervalle werden auch gezählt, und Raum-Zeit-Metaphern sind sogar häufig.

Die Zeitauffassung der Hopi ist zyklisch wie bei vielen alten Bauernkulturen, sie ist ausserdem eng mit religiösen Vorstellungen und Gebräuchen verknüpft. Es handelt sich jährlich um die Wiederkehr desselben, daher gibt es auch keine Jahreszahlen. Kleinere Intervalle wie Minuten und Sekunden fehlen, weil sie völlig überflüssig sind. Trotzdem bleiben die Hopi-Verhältnisse signifikant anders als bei uns, und man darf sagen, dass Whorfs Grundauffassung von der Wirkung verschiedener Sprachstrukturen auf das Denken der Sprecher durchaus berechtigt ist.

Aber bei meinen Untersuchungen ist es nicht geblieben. Ekkehart Malotki, inzwischen der beste Kenner der Hopi-Sprache und derzeit Professor an der Universität Flagstaff in Arizona, hat als mein ehemaliger Schüler 1979 eine Doktorarbeit über den Hopi-Raum (Narr, Tübingen) und dann 1983 eine umfangreiche Arbeit über «Hopi-Time» (bei Mouton) vorgelegt. Mit diesen beiden grundlegenden Arbeiten ist das Problem der Raum-Zeit-Auffassung im Hopi endgültig gelöst. Die Raumauffassung ist hier mit zahlreichen Schemazeichnungen veranschaulicht. Ortsbestimmungen können mit verschiedenen grammatischen Mitteln (Kasus, Lokatoren, Modulatoren, Suffixe usw.) genauestens ausgedrückt werden. Der speziellen Lage der Hopi-Dörfer ist ein Dreizonenkonzept angepasst, wonach eine Hauszone, eine Dorfzone und eine Mesazone unterschieden werden. Eine erstaunliche Einzelheit sei noch erwähnt: Man kann durch ein Suffix ausdrücken, dass ein entfernter Gegenstand durch ein Hindernis der Sicht entzogen ist.

Die Hopi-Zeit aber erweist sich geradezu als ein Wunderwerk subtilster Unterscheidungen. Sie aufzulisten ist hier unmöglich. Zahlreiche Suffixe und Partikeln erlauben über das bereits Gesagte hinaus feinste Nuancierungen im zeitlichen Bereich.

Meine Ergebnisse sind durch Malotkis Untersuchungen an Genauigkeit weit übertroffen und durch zahlreiche Belege in Beispielsätzen demonstriert worden. Er hat sich allerdings nicht zur Weltbildfrage und zum Relativitätsprinzip geäussert. Er wollte nur Fakten und keine darüber hinausreichende Interpretation bieten. Aber diese Fakten sprechen für sich.

Dies alles ist jedoch durch die ständig fortschreitende Akkulturation bedroht. Allein das kommerzielle Fernsehen erweist sich als Kulturtöter erster Ordnung. Hierdurch wird auch die Sprache gefährdet. Aber es sind in neuerer Zeit Kräfte am Werk, die sich um die Bewahrung der Tradition bemühen. So wird in den Schulen Hopi-Unterricht erteilt, damit die Kinder ihre Muttersprache nicht aufgeben. Hinzu kommt als ein grossartiger Verbündeter zur Erhaltung der Hopi-Kultur das 1998 erschienene umfangreiche Hopi-English Dictionary (University of Arizona Press, Tucson). Es ist das Ergebnis einer zwölfjährigen Arbeit eines Teams von amerikanischen und einheimischen Mitarbeitern, unter massgeblicher Beteiligung von Malotki. Auf 900 Seiten sind rund 30 000 Wörter mit Angaben zu ihrer Verwendung erfasst. So wird erstmalig der ganze Reichtum dieser Sprache sichtbar, aus dem sich auch deren sprachliche Weltansicht erschliessen liesse. Ein Abriss der Hopi-Grammatik rundet das Werk ab. Diese bisher umfangreichste Darstellung des Wortschatzes einer Indianersprache kann sich mit jedem englischen Wörterbuch messen.

Mit Sicherheit darf von einer Andersartigkeit des Weltbildes der Hopi-Sprache ausgegangen werden, und entsprechende Untersuchungen anderer Indianersprachen würden noch weitere Besonderheiten sichtbar machen. Beide Begriffe: «sprachliches Weltbild» und «sprachliches Relativitätsprinzip» enthalten einen rationalen, nachprüfbaren Kern. Derartige Untersuchungen bleiben wichtig und sinnvoll und können, sofern Verwechslungen mit wissenschaftlichen Weltbildern und ideologischen Weltanschauungen sorgsam vermieden werden, zu aufschlussreichen Ergebnissen führen. Dass trotz alledem Verständigung zwischen Sprechern selbst sehr verschiedener Sprachen möglich ist, bleibt unbestritten, aber diese Kommunikation kann nur dann zu einem wirklichen Verstehen der Geisteseigentümlichkeiten der Völker führen, wenn die Verschiedenheiten tatsächlich erkannt sind. 

 

 


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