Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 01.03.2000 Nr.51   64

 

Der Lord mit der Säge

Zum Streit um die Elgin Marbles im Britischen Museum

 

Von den erhaltenen Parthenon-Skulpturen befinden sich 39 Metopen in Athen und 15 im Britischen Museum in London. Eine der Reliefdarstellungen am Fries ist im Louvre; 36 sind im Akropolis-Museum und 56 im Britischen Museum (zu dessen Sammlung überdies Skulpturen aus dem Erechtheion gehören). Mit anderen Worten: die Intervention Lord Elgins zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Grund, weshalb diese Marmorbildwerke, deren Hauptmeister vermutlich Phidias war, ungefähr zur Hälfte in Athen und zur Hälfte in London gehütet werden.

Als im letzten Herbst die englische Tageszeitung «The Guardian» von Nachtessen berichtete, die das Britische Museum für potentielle neue Sponsoren in der Duveen Gallery veranstaltet haben soll, erhielt der Streit um die dort ausgestellten Elgin Marbles neuen Zündstoff. Noch schlimmer kam es wenige Wochen später, als der heute zuständige Kurator vor den Originalen zugestand, anlässlich einer 1937-38 durchgeführten Reinigung hätten rund vierzig Prozent der Elgin Marbles Schaden erlitten. Der grösste Schock für die anwesenden Griechen kam allerdings erst mit dem Duft von in der Galerie servierten Speisen, als die den Sandwiches zusprechenden Konferenzteilnehmer aufgefordert wurden, sich durch ein Betasten der Marbles zu vergewissern, dass von grossen Schäden nicht die Rede sein könne. Kein Wunder, distanzierte sich der anwesende griechische Kulturattaché demonstrativ sowohl vom Mahl als auch von der taktilen Analyse - und kein Wunder auch, wurde danach die Frage nach dem rechtmässigen Zuhause der Elgin Marbles wieder lauter. Zwar hat der britische Premierminister Blair im Dezember kategorisch erklärt, eine Rückkehr der Bildwerke nach Griechenland komme nicht in Frage. Die Griechen hingegen hoffen weiter, sehen sie doch die im Jahr 2004 in Athen stattfindenden Olympischen Spiele als den idealen Anlass für eine Rückführung. Es wird daher auch angenommen, dass das Kulturkomitee im britischen Unterhaus den Fall Elgin Marbles demnächst diskutieren wird.

Leidensgeschichte eines Tempels

Als Melina Mercouri Kulturministerin ihres Landes war, hatte sie den Parthenon als das kostbarste Symbol des griechischen Nationalgefühls bezeichnet. Dieser ursprünglich der Göttin Athene geweihte Marmortempel hatte allerdings schon lange vor der Ankunft Lord Elgins und seiner Helfer eine Leidensgeschichte - unter denen, die den Bildwerken Schaden zugefügt hatten, waren auch Griechen gewesen. Stationen der unglücklichen «Parthenon-Saga» waren ein Erdbeben im Jahr 426 v. Chr. und neun Jahrhunderte danach die Schliessung des Tempels sowie später dessen Verwendung als christliche Kirche: hier veranstaltete zum Beispiel im Jahr 1018, nach seiner blutigen Unterwerfung der Bulgaren, der byzantinische Kaiser Basilios II. einen Dankgottesdienst. Nach der Eroberung durch die Türken im Jahr 1458 erlebte der Parthenon die Verwandlung in eine Moschee mit einem Minarett; das Erechtheion wurde zum Harem des Kommandanten umfunktioniert. Die wohl grösste Katastrophe allerdings kam erst während der Belagerung Athens durch die Venezianer im September 1687, als ein Geschoss durch das Dach des Parthenons drang und das von den Türken gelagerte Schiesspulver zur Explosion brachte. Auch litt der Parthenon, als der venezianische Kommandant Francesco Morosini - der es vermutlich dem 1204 mit den bronzenen Pferden für San Marco aus Konstantinopel zurückgekehrten Dogen Enrico Dandolo gleichtun wollte - ein Entfernen der Skulpturen des westlichen Ziergiebels anordnete. Die zwei Stücke, die bei dieser Operation nicht zerbrachen, gelangten schliesslich über einen dänischen Söldner nach Kopenhagen.

«The last, the worst, dull spoiler, who was he? Blush, Caledonia! such thy son could be!» - Der Sohn Kaledoniens, den der Dichter Byron mit diesem Vers in «Childe Harold's Pilgrimage» zum letzten und schlimmsten Plünderer des Parthenons abstempelte, war der Schotte Thomas Bruce, besser bekannt als Lord Elgin. Dieser, der siebte Earl of Elgin, war 1799 zum britischen Botschafter in Konstantinopel ernannt worden. Elgins ursprüngliches Interesse an den Parthenon-Skulpturen ist unklar. Bereits Monate vor Elgins erstem und einzigem Besuch in Athen im frühen Sommer 1802 entfernten seine Männer aus dem Parthenon, was sie nur konnten. Bereits im September 1801 waren von Elgins Vertrauensmann «drei oder vier zwanzig Fuss lange Sägen» angefordert worden, und die nachfolgenden Briefe zwischen den beiden tönen denn bald auch so, als ob die Akropolis ihr privater Selbstbedienungsladen geworden wäre. Wie Christopher Hitchens in seinem Buch «The Elgin Marbles - Should they be returned to Greece?» sagt: immer lauter gab im Parthenon der Gesang der Säge dem fortschreitenden Jahr 1802 das Geleit. Elgin, dessen Regierung nach Nelsons Siegen am Nil bei den Türken hoch im Kurs stand, nutzte die ihm daraus entstehenden Privilegien. Den Rest besorgten die griechischen Unabhängigkeitskriege; 1833, nach der Übergabe durch die Türken, war die Akropolis ein Trümmerfeld - in den Worten eines bayrischen Augenzeugen ein Chaos von Marmorfragmenten, Kanonenkugeln, menschlichen Schädeln und anderen Knochen.

Von der Akropolis nach Bloomsbury

Erst hatte Lord Elgin die Parthenon-Skulpturen für Broomhall, sein Haus in Schottland, gewollt; doch in Grossbritannien nötigten ihn finanzielle Sorgen, sie dem Staat zum Kauf anzubieten. Auf seiner Rückkehr war Elgin drei Jahre lang in Frankreich sitzen geblieben - als Internierter. Wie dazu ein späterer Kommentator sagte: der von ihm begehrte Posten in Konstantinopel sollte Elgin sein Vermögen, seine Frau, die Hälfte seiner Nase und seinen Ruf kosten. In der Tat war Elgins Unsterblichkeit mit Byrons Angriffen in «Childe Harold» und auch in «The Curse of Minerva» ebenso gesichert wie mit der britischen Act of Parliament von 1816, die den Kauf der Bildwerke und deren Transfer ins Britische Museum zur Tatsache machte. Immerhin, dieses Gesetz war es, das dem Britischen Museum vorschrieb, dass die Parthenon-Skulpturen fortan den Namen «Elgin Marbles» tragen sollten. Fast haben die Griechen in dieser «very British» gewordenen Story keinen Platz. Gelegentlich tauchen sie trotzdem auf - so zum Beispiel 1822, als sie dem auf der Akropolis verschanzten türkischen Feind Munition anboten, um diesen von der Zerstörung des Parthenons (dessen Wände in den Verstrebungen das von den Belagerten begehrte Blei enthielten) abzuhalten. So auch 1837, als die Archäologische Gesellschaft Griechenlands ihr erstes Treffen in den Trümmern des Parthenons hielt und ihr Präsident diese Trümmer als wertvoller denn Edelsteine bezeichnete. Und auch jetzt, seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, treten die Griechen wieder in Erscheinung - ja verweisen sie darauf, dass mit einem neuen Museum in der Nähe des Parthenons bald die idealen Voraussetzungen geschaffen wären, das gesamte kulturelle Erbe Griechenlands an einem einzigen Ort zu zeigen. Der Gedanke hinter diesem Fingerzeig ist unmissverständlich: da niemand verlangt, dass die Akropolis in den Londoner Stadtteil Bloomsbury verlegt werde, sehen die Griechen den Moment für eine Rückreise der Elgin Marbles aus dem Britischen Museum nach Athen als gekommen.

Seilziehen ohne Ende?

Und schon ist die alte Kontroverse wieder laut geworden. War Elgin nun ein Bewahrer oder ganz einfach ein Plünderer? Würde das Britische Museum durch ein Nachgeben einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, und würde dadurch das Konzept von einem kosmopolitischen Museum einen Stoss erleiden? Ist den Griechen die Rolle eines verlässlichen Kustos für die Elgin Marbles überhaupt zuzumuten? Gegner einer Rückerstattung verweisen auf den Antikenschmuggel aus Griechenland im letzten Jahrzehnt; auch darauf, wie die am Parthenon verbliebenen Metopen durch die Luftverschmutzung zerfallen. Auch ist für sie der Umstand, dass ein Objekt den Weg durch verschiedene Hände in eine Sammlung fand, kein Grund für eine Rückgabe, sondern wie der Ursprung des Objekts eben ein Teil seiner Geschichte - so wenigstens formuliert es zu der vorliegenden Debatte eine Stimme aus dem Londoner Victoria and Albert Museum.

Dem britischen Kulturminister Chris Smith muss wohl diese Stimme in den Ohren geklungen haben, als er sich Anfang Februar weigerte, die Unidroit Convention zu unterzeichnen. Die Befürworter einer Rückerstattung argumentieren dagegen, dass ein edler Geist, der das Eigentum eines bedrängten Nachbarn rette, dieses kaum für sich beanspruchen würde. Viele Argumente - beider Seiten - regen zum Nachdenken an. Vielleicht sollte das letzte Wort durch eine Umfrage den unzähligen Besuchern im Britischen Museum überlassen werden? Schon bald nämlich werden sich die Gemüter noch mehr erhitzen: bald sind es zweihundert Jahre her, seit der Gesang der Säge Lord Elgins durch den Parthenon hallte.

Georges Waser

Bild

Bild
Parthenonfries - Detail
(24KB)

Teilstück des Parthenonfrieses
(53KB)
Bild

Bild
Parthenonfries - Detail
(39KB)

Parthenonfries - Detail
(44KB)
Bild
Parthenonfries - Detail
(14KB)

 

Die folgenden Links öffnen alle ein zusätzliches Fenster:

Parthenonfries - Detail: Athen, Akropolis-Museum
Parthenonfries - Detail: Athen, Akropolis-Museum
Parthenonfries - Detail: Athen, Akropolis-Museum

Zur Ergänzung: Griechische Impressionen aus dem letzten Jahrhundert

 


Zurück zur Seite "Varia 2000"

Zurück zur Seite "Varia"