Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 15.04.2000 Nr.90   67

 

BildDie Gabe der Göttin

Hans Joachim Schädlichs Äsop-Nacherzählung

Gibt es eine schönere Initiation in die Sprache als das Geschenk der Göttin, als die Gabe der Musen? Wir, die den Erwerb der Artikulationsfähigkeit in Wort und Schrift harten Schulbänken abgerungen haben, können es nur als eine fabelhafte Fügung betrachten, wenn die Hinführung zur Sprache und die Berufung zum Dichter einer göttlichen Weisung entspringen.

Äsop war ein zahnloser, stotternder Sklave mit Säbelbeinen, Schielaugen, unreiner Haut und einem vorquellenden Bauch. Für eine Arbeit in der Stadt war seine Erscheinung zu grobschlächtig. Sein Herr schickte ihn aufs Land. Als er einmal auf dem Feld arbeitete, tauchte plötzlich eine Priesterin der Isis vor ihm auf und fragte ihn nach dem Weg in die Stadt. Die Verzweifelte hatte sich verirrt. Äsop warf sich vor ihr auf den Boden, nahm sie sodann bei der Hand, gab ihr zu essen und zu trinken und wies ihr mit seinen bescheidenen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten den Weg. Als er wenig später im Schatten eines Baumes von der Feldarbeit ausruhte, erschien ihm die Göttin Isis, begleitet von den Musen, und machte ihn reden. «Ich will, dass er sprechen kann.» Die Musen gaben dem Sklaven zudem die Fähigkeit, Fabeln zu ersinnen. So kam es, dass ein Stotterer namens Äsop auch in der Dichtkunst wegweisend wurde.

In der Folgezeit hielt der listige Schelm mit allerlei Wortspaltereien, Sophismen und rabulistischen Sprachspielen den Philosophen Xanthos von Samos zum Narren und avancierte zum Berater von Krösus, dem König der Lyder. Als Mann des Volkes, der die Sprache beim Wort nahm, überführte er die etablierten Heroen des Geistes und der Macht. Mit einigen sparsamen Denkbewegungen wies er ihnen nach, dass sie von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens nichts wissen. Aber auch in banalen Alltagsangelegenheiten triumphierte der krummbeinige Taugenichts.

Die Klugheit des Fabeldichters stiess auf Bewunderung und Skepsis. Er wurde mit Ehrungen überhäuft, fiel in Ungnade, setzte sich nach Ägypten ab und landete schliesslich in Delphi, wo er sich buchstäblich um Kopf und Kragen redete. Am Eigensinn der Delpher prallte auch die Rede dessen, der vom Götterhimmel mit Worten begabt wurde, unwiderruflich ab. Äsop wurde als Hetzer und Tempelräuber zum Tode verurteilt und auf einen Felsen geführt. Doch bevor seine Schergen ihm den tödlichen Stoss versetzen konnten, sprang er selbst in den Abgrund.

Mit der Gabe des Wortes hatten die Götter ihn nicht nur das Sprechen gelehrt, sondern auch mit dem Stolz ausgestattet, über seinen Tod selbst zu verfügen. Die Delpher aber wurden von einer Seuche heimgesucht. Wem die Götter Sprache verleihen, dem kann sie von Menschenhand nicht straflos wieder genommen werden. Und so leben die Fabeln des Äsop fort, gleichsam als Rache an seinem gewaltsamen Verstummen.

Der vorerst letzte in der langen Reihe derer, die an der Tradierung des Äsop-Stoffes mitgewirkt haben, ist der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich. Er nennt diese Bearbeitung einer der zentralen Initiationsgeschichten antiker Dichtung eine «Nacherzählung» und versah die Geschichte vom «Leben und Tod des Dichters Äsop» mit dem (kon)genialen Titel «Gib ihm Sprache». In diesem göttlichen Imperativ liegen schon alle Denkmacht und Wortgewalt, aller Witz und alle Weisheit, die die Rhetorik des Fabeldichters Äsop auszeichnen sollten.

«Gib ihm Sprache» - das klingt wie ein himmlisches Gebot und wie eine schreckliche Drohung zugleich. Denn der Empfänger wird diese Sprache gebrauchen, und der Preis wird hoch sein. Die Macht des Wortes ist es, die jenen Kreislauf der Semantiken auslöst, der mit Missverständnissen beginnt und in Kriegen endet. In Äsops Fall mit dem eigenen Tod. Dabei führte der wortbegabte Sklave nichts Böses im Schilde. Zu König Krösus sagte er einmal: «Aus mir ertönt bloss meine Stimme und ermahnt die Menschen zur Vernunft.» Der Stimme des Fabeldichters hat Hans Joachim Schädlich mit seiner eindringlichen Nacherzählung zu neuem Ausdruck verholfen, den Appell zur Vernunft hat die Geschichte selbst ins Reich der Fabeln gestellt.

Stephan Krass

Hans Joachim Schädlich: Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop. Rowohlt-Verlag, Reinbek 1999. 91 S., Fr. 29.80.

 

Bild
Karikatur des griechischen Dichters Aesop, der sich mit einem Füchslein unterhält.
Innenbild einer Trinkschale
um 450 v. Chr.
Rom, Vatikanische Museen


Link: Die Fabeln des Aesop in deutscher Sprache
(Dieser Link öffnet ein zusätzliches Fenster)
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