Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 02.09.2000 Nr. 204   83

 

Verwandlungen

Michael von Albrechts Ovid-Interpretationen

Von Hans-Albrecht Koch

Auf Michael von Albrechts Übertragung der «Metamorphosen» stützt sich Christoph Ransmayr in seinem weit verbreiteten Ovid-Roman «Die letzte Welt». Die zweibändige «Geschichte der römischen Literatur» des Heidelberger Gelehrten gehört für Altphilologen und Lateinstudenten in aller Welt zum täglichen Handwerkszeug: eine Darstellung, in der die sozialen, biographischen, gattungsgeschichtlichen und textanalytischen Aspekte der Literatur von Livius Andronicus bis Boethius gleichermassen zu ihrem Recht kommen, die mit weitem Blick auch die Wirkungsgeschichte der römischen Autoren in Musik, bildender Kunst und späteren Literaturen verfolgt und noch dazu in schönster Wissenschaftsprosa geschrieben ist. All diese Vorzüge gründen in hoher künstlerischer Sensibilität und stupender Belesenheit des Autors, der in komparatistischen Passagen immer auch ganz souverän aus der genauesten Kenntnis der slawischen Literaturen schöpfen kann. Die Leistung Michael von Albrechts verlockt nachgerade dazu, ihn - mit altrömischer Terminologie spielend - unter solchen Brückenbauern einen Pontifex maximus zu nennen.

Sensibilität und Belesenheit - das sind auch die Merkmale der im «Buch der Verwandlungen» vereinigten Interpretationen. An die Fachgenossen und den gebildeten Leser gleichermassen richtet sich das Werk, mit dem von Albrecht eine Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem weltmännischen Dichter der frühen römischen Kaiserzeit zieht. Als Psychologe der Erotik in den «Amores» und der «Ars amatoria» - auch die «Liebeskunst» kann man in der Übersetzung von Albrechts lesen - und als Ironiker der Mythographie in den «Epistulae Heroidum» («Heroidenbriefe») und den «Verwandlungen» fand der 43 v. Chr. geborene Publius Ovidius Naso zwar den Beifall eines modern gesinnten Publikums in der Hauptstadt des Imperium Romanum, doch erregte er mit seiner provozierenden Desavouierung des heroischen Tugendpathos beim Princeps Augustus zunehmend Anstoss und erlitt im Jahre 8 n. Chr. das Schicksal der lebenslangen Relegation: Tomi am Schwarzen Meer wies der Herrscher dem Dichter als Sitz an, wohl auch, um sich des unliebsamen Mitwissers einer Skandalaffäre in der kaiserlichen Familie zu entledigen.

Wie hart Ovid das letzte Lebensjahrzehnt in der Verbannung am Rand des Weltreiches angekommen ist, bezeugen seine Exildichtungen, vor allem die von Klagen und Bitten erfüllten «Tristia ex Ponto». In den «Tristien» drücken sich die Empfindungen der gesellschaftlichen Isolation und die Sehnsucht nach anregender Urbanität als unmittelbares Erleben aus. Kein Wunder daher auch, dass der Geniegedanke der Neuzeit sich vielfach an der Lektüre dieses ganz aus der Subjektivität schöpfenden Römers entzündete. - Das Mittelalter las die fünfzehn Bücher der «Metamorphosen» vor allem als Erklärungen der Natur - ein wichtiger Grund der kontinuierlichen Rezeption des Dichters. Neben der Heiligen Schrift sind die «Verwandlungen» für Maler und Bildhauer, nicht weniger aber auch für die Opern-Librettisten während der ersten drei Jahrhunderte der Neuzeit der wichtigste Stoff-Fundus geblieben.

Allzu bescheiden mutet der Untertitel «Interpretationen» an, denn sie bilden keine «disiecta membra», sondern fügen sich zu einer geschlossenen Darstellung zusammen, die den Blick zunächst auf wichtige Themen (u. a. Mythos und Realität; Metamorphose als Selbstentfremdung; Frauen- und Künstlerproblematik), sodann auf die Wandlungen in der Sprache der Erzählkunst des Dichters und endlich auf die eigentlich integrierenden Elemente des Werks richtet: den räumlichen Kosmos, den welthistorischen Stoff und die Menschendarstellung. An einem späten und besonders raffinierten Stück aus der Geschichte der Buchillustration, den Kupferstichen von Du Guernier, Kirkall und anderer Künstler zu der 1717 in Amsterdam erschienenen, von anonymer Hand besorgten englischsprachigen Ausgabe zeigt von Albrecht exemplarisch, wie spätere Zeiten aus den «chronologisch» von der Weltschöpfung bis zu den Tagen des Augustus geordneten Gestalten der «Metamorphosen»-Bücher ihre eigene Existenz gedeutet haben.

Überhaupt sind die rezeptionsgeschichtlichen Passagen des Buches wahrhafte Kabinettstücke. Wo immer der Autor hinblickt, entdeckt er bisher Ungesehenes: So führt er etwa den bündigen Nachweis, dass der mittellateinische Dichter Balderich von Bourgueil (1046-1130) in einem seiner allgemein für blosse Ovid-Nachahmung genommenen «Carmina» dem mythischen Ehebruch Helenas, den Ovid in den «Heroides» gleichsam naturrechtlich entschuldigt (sie ist zu schön für einen Haudegen wie Menelaos), eine Figur des kanonischen Rechts überstülpt und die erste Ehe der spartanischen Königin für von Anfang an ungültig erklärt. Ein wahres Meisterstück philologischen Starstechens bildet der Abschnitt zu Dante, dem ovidische Gestalten «als archetypische Muster menschlichen Fehlverhaltens» dienen, vor allem im «Purgatorio». Nicht nur die Fülle der Einzelbelege - Procne als Exempel für bestraften Zorn, Midas als solches für Habgier, Erysichthon für Fressgier usw. - beeindruckt, sondern die Entdeckung, wie stark der «selbstverständliche, geradezu systematische Rekurs auf ovidische Mythen als Parallele zu alttestamentlichen Geschichten» die Poetik des Florentiners bestimmt. Nicht zuletzt ein solcher Brückenschlag über die Zeiten hinweg macht den hohen Reiz dieses Buches aus.

Michael von Albrecht: Das Buch der Verwandlungen. Ovid- Interpretation. Artemis & Winkler, Zürich 2000. 422 S., Fr. 44.50.

 

 


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