Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 18.05.2000 Nr. 115   65

 

In den Gärten der Lust

Paul Wührs Standardwerk der Liebe

Zweitausend Jahre nach Ovids «Ars amatoria» hat die Literatur mit Paul Wührs «Venus im Pudel» wieder ein Standardwerk der Liebe. Seinem gigantischen Poem «Salve Res Publica Poetica» (1997) liefert der Münchner mit dem nicht weniger opulenten neuen Werk nun sozusagen die Res sexualis nach. Die Res privata eigentlich, aber von privat kann keine Rede mehr sein heutzutage, wo das Glück virtuell verfügbar ist und im Glas fertilisiert wird. «Venus im Pudel» ist denn auch nicht ein freches Sexlehrbuch wie die «Ars» des Ovid, sondern eine Recherche über die Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Kritisch, ironisch, zynisch und mit Wonne auch blasphemisch durchwühlt und unterläuft Wühr Doktrinen und Institutionen der geistigen und fleischlichen Liebe von der Jungfernzeugung bis zur Pornoindustrie, vom Aschenbrödel bis zur Leihmutter. Vor dem Moralisieren schützt ihn dabei seine Liebe für Widersprüche, für die empirische Vielfalt der Erscheinungen.

Keine Res privata, aber eine unsterbliche Res poetica ist die Res sexualis für Wühr hingegen schon. Ihr tut das technische Zeitalter keinen Abbruch. Im Gegenteil: die Reproduktion ist ein wesentliches poetisches Element dieser geradezu maschinellen Massenproduktion von Gedichten. Ei- und Samenspende, Genmanipulation, Cybersex und das ganze technische und obszöne Sexualvokabular verwandeln sich ihm mühelos in Verse. Poesie hat hier nichts feiertäglich Abgehobenes. Sie besteht gerade in einem irritierend prosaischen Gebrauch auch der kleinsten Wörter. «was er schon ist du der / eine ich auch diese eine / die mit dir» - aus schier nichts bringt Wühr seine Strophen zum Klingen. Hohe Kunst in der Reduktion, in der Auflösung ist das allemal. Der technischen Welt setzt er entschieden die Technik des Dichtens entgegen. Deswegen vor allem muss er ein Poeta doctus genannt werden.

Wührs Werk ist kein Lehrbuch. Es ist ein sokratischer Marktplatz, auf dem unentwegt debattiert wird über die ersten und über die letzten Dinge. Zum Beispiel, ob allenfalls die Virtualisierung der Erotik im Internet letztlich nichts anderes als die Realisierung des Platonismus bedeute. Immer betrachtet sich Paul Wühr selbst als Schüler, als Fragender. Als systematisch Fragender allerdings. Das Inhaltsverzeichnis schon gleicht in seiner klaren und doch geheimnisvollen Ordnung einem französischen Garten. Da ist alles kunstvoll geteilt in Bücher, Abteilungen und Kapitel. Die Bücher heissen «Würfe», «kynische» und «venerische», die Abteilungen nennt er beispielsweise «Ziborien», «Defäkationen», «Extorsionen», «Konxompax» und die Kapitel etwa «loci», «Regressionen», «Akzeptanzen». Sie tragen Untertitel wie «Die Lust an Gott finden sie beide nicht geil». Jedem Kapitel stehen zudem zwei kontradiktorische und zu den folgenden Gedichten kontrapunktische Mottos aus der Jurisprudenz, der Geschlechterrollendiskussion, der Theologie oder der Philosophie von Augustin über Hamann bis Lacan voran.

Aber der ordnende Verstand im wührschen Werk bringt sein verwirrend Anderes hervor, und der strenge Barockgarten verwandelt sich in den Irrgarten der Lüste. In seiner Mitte hocken das Tier im Menschen und der Mensch im Tier, der Minotaurus als Frucht und Strafe der erotischen Hybris. Und Ariadne? Sie sitzt bei Wühr ebenfalls im Labyrinth, im Schoss den Schnauz des Dionysiers Nietzsche. Eros ist der rote Faden in Wührs Opus. Wohin er führt, ist allerdings ungewiss, ins Paradies oder aus dem Paradies. Dem Verlust des Gartens Eden haben wir nicht nur die Lust, sondern auch ihre ständige Begleiterin, die Scham, zu verdanken. So ist alles zweigeteilt: Mann und Weib, Fleisch und Geist. Oder eben nicht zweigeteilt, sondern «bipolar», wie Wühr es nennt, d. h. Eines mit zwei Enden wie die Wurst. Mit lukrezischer Verve feiert er, hier für einmal ganz im Stile des Lehrgedichts, seinen grossen Alfred N. Withehead und seine Theorie der Untrennbarkeit von Physis und Geist.

Und diese beiden Enden bilden kein Ende, endlos ist das Eine im Andern, das Männchen im Weibchen, das Weibchen im Männchen, das Hohe im Niedrigen, das Niedrige im Hohen - Venus im Pudel eben. Die Uferlosigkeit des wührschen Werks ist überwältigend. Listigerweise lässt gerade sie aus ihm trotz den weit über tausend Gedichten nie ein Opus magnum werden. Jederzeit könnte es ja noch grösser sein. Deshalb wirkt der Brocken zugleich schlank, ökonomisch - die Gedichte suchen nie das Ganze, sie stehen für sich. Umgekehrt gilt auch: das Einzelne zählt nichts, es ist immer nur eines von vielen.

Nicht weniger beeindruckend ist Wührs Monotonie. Drei, vier Gedichtformen genügen ihm für das alles, von Maria und Josef über de Sade bis Lisa Palac. In der Feinstruktur ist die Monotonie allerdings äusserst polyphon. Die Poeme sind Dialoge ohne abgegrenztes Ich und situierbares Du. Die Grenzen des Individuums zerfallen in der Intimität. Geschlechtsteile treiben in Wührs Gedichten herrenlos herum. Eine auktorial-ordnende Stimme gibt es nicht. Wühr als Autor ist nicht Schöpfer, sondern Maschine. Er ist Arbeiter, eine Art Zweitverwerter von Bildern, Phrasen, Sätzen, vom pornographischen Witz bis zur wissenschaftlichen Abhandlung. Von allem, was unsere Zivilisation als Strandgut aus ihren versunkenen Tiefen an die Oberfläche spült.

Dem wührschen Gedicht ist schliesslich nichts heilig als das Gedicht selber. Keines ist als Liebesgedicht entstanden: alle aber aus Liebe zum Gedicht. Wühr ist einer, der sich von Gedichten ernährt: Verzehr, Verdauung, Ausscheidung. Das ist seine Venus: die Venus der Kyniker. Schon zu Ovids Zeiten war sie als Venus cloacina die Göttin aller Körpersäfte. Wührs Gedichte lassen das Körperliche nur untergehen, um es als Gedichtkorpus auferstehen zu lassen. Es geht ihm nicht um die Vergeistigung der Liebe, sondern um ihre Verwörtlichung.

Man kann diese Poeme nicht bloss mit den Augen lesen, weil ihre Strophierung fast immer den fugenartig voranstürzenden Gedanken ausser Atem bringt. Man muss sie rezitieren, in einem Atemzug. Aber man muss sie auch mit den Augen lesen, weil gerade ihr ebenmässiges Erscheinungsbild sie erst zu einem Körper werden lässt. Die Poeme über Kafka im neunten «Venerischen Wurf», Abschnitt «Zölibatäres», Kapitel «Hysteresen» und «Inkarnationen», bilden des Pudels Kern: das tägliche Schreibexerzitium als Rettung der Erotik in der Askese, der Ekstase in der Meditation, des Körpers im Geist, des Fleisches in der «heiligen» Schrift. Des Pudels Kern ist der Klostergarten.

Aber im Venuspelz verbirgt sich dann doch wieder ein anderer: der Spieler Wühr. Das Kapitel «Talus» im zweiten «kynischen Wurf» enthüllt, spielerisch, die Regeln des Spiels: Wurf kommt von «würfeln». Gespielt wurde beim römischen Talus mit vier Würfeln. Alle Sechser oben war das schlechteste Resultat und hiess «Hund». Zeigte jeder Würfel eine andere Zahl, hiess das «Venus». Die Ironie des Zufalls relativiert das eine im andern: das Glück im Unglück, das Unglück im Glück. Gegen seine finstere Überzeugung, dass wir zum Sterben geboren sind, setzt Paul diese «fröhliche Wissenschaft» des Würfelns.

Samuel Moser

Paul Wühr: Venus im Pudel. Hanser-Verlag, München 2000. 702 S., Fr. 90.-.

 

 


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