Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


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NZZ BILDUNG UND ERZIEHUNG Donnerstag, 06.07.2000 Nr.155   79

 

Latein in Bedrängnis

Folgen der Umsetzung des MAR 95 und Zukunftsperspektiven

Von Rudolf Wachter, Professor für griechische, lateinische und indogermanische Sprachwissenschaft, Basel

Die Quote der Lateinmaturandinnen und -maturanden hat sich in den meisten Kantonen um die Hälfte bis zwei Drittel reduziert. Die Umsetzung des neuen Maturitätsanerkennungsreglementes hat massgeblich dazu beigetragen. Der Autor des folgenden Beitrags zeigt Ursachen für diesen abrupten Rückgang auf und erläutert Massnahmen, um die Stellung des Lateins in der gymnasialen und universitären Ausbildung der Zukunft zu sichern.

Das vor bald fünf Jahren in Kraft gesetzte neue Maturitätsreglement («MAR 95») hat innert kürzester Zeit das Fach Latein an den Gymnasien in eine ganz neue Lage gebracht. Während es früher ein integraler Bestandteil namentlich des Typus B war, der am häufigsten gewählt wurde (zuletzt in Basel-Stadt von 37 Prozent, in Zürich von 55 Prozent, in Bern aber bereits nur noch von rund 15 Prozent der Schüler), sieht es sich heute einer harten Konkurrenz mit vielen anderen, teilweise neu geschaffenen Fächern ausgesetzt.

Bevorzugung von Englisch

Verschiedene Kantone haben zudem bei der Umsetzung des MAR bei den Grundlagenfächern («Dritte Sprache») das Englische gegenüber Latein institutionell bevorzugt, so dass Latein in dieser Position gar nicht wie vorgesehen zur Wahl steht, sondern nur als Schwerpunktfach gewählt werden kann. Es zeigt sich aber, dass die Schülerinnen und Schüler «ihr Schwerpunktfach nicht ans Latein vergeben» wollen (so ein Basler Rektor). Angesichts der Tatsache, dass erstens eine gymnasiale Matur nach dem neuen MAR auf keine Weise mehr so reichhaltig und ausgewogen sein kann wie nach dem früheren Typus B (mit Latein, Englisch sowie viel Naturwissenschaft und Mathematik) und dass zweitens Latein als recht anspruchsvolles Fach bekannt ist, ist es kein Wunder, dass viele Schülerinnen und Schüler unter dem neuen System darauf verzichten: Die Quote von angehenden Lateinmaturandnen hat sich in den allermeisten Kantonen um mehr als die Hälfte, teilweise um mehr als zwei Drittel reduziert.

Zusätzlich zum Rückgang der Zahl der Schüler, die Latein wählen, ist auch der Unterricht stark reduziert worden, und zwar um bis zu 50 Prozent der früheren Stundenzahlen. Zudem geht die Tendenz der Bildungsreformen in letzter Zeit in Richtung einer Verkürzung des Gymnasiums (bis hinunter auf 3 Jahre im Kanton Bern) und einer Verdrängung des direkt an die Primarschule anschliessenden Langzeitgymnasiums beziehungsweise des Progymnasiums vor dem eigentlichen Gymnasium. Dies widerspricht modernen didaktischen Erkenntnissen über die Wichtigkeit langer und kontinuierlicher Lernprozesse und ist für Fächer eine ungünstige Entwicklung, die auf einen langjährigen, strukturierten und zielgerichtet aufgebauten Unterricht besonders stark angewiesen sind.

Viele müssen nachlernen

Die Philosophischen Fakultäten auf der anderen Seite gedenken aus inhaltlichen Gründen am Lateinobligatorium für philologische, historische und andere kulturgeschichtlich orientierte Fächer auch in Zukunft festzuhalten. Wer in der Deutschschweiz im Hauptfach Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Geschichte, Philosophie, Kunst- oder Musikwissenschaft studieren will, muss Lateinkenntnisse vorweisen und selbstverständlich ebenso für die altertumswissenschaftlichen Fächer Alte Geschichte, Griechisch, Latein und Archäologie, für die sogar beide alten Sprachen gefordert werden. In der Romandie sind die Anforderungen uneinheitlich.

Die Konsequenz ist schnell beschrieben: Sehr viel mehr Studienanfänger werden in Zukunft an der Universität zuerst einmal ihr Latein nachzuholen haben. Dies ist erstens nicht sehr motivierend, denn es bedeutet, sich zunächst einmal mit einem anderen Gebiet, als man sich vorgenommen hat, befassen zu müssen. Zweitens führt das Nachholen des Lateins zu einer Studienverlängerung um faktisch ein Jahr. Die Kosten, die man mit der Reduktion des Lateins an den Mittelschulen vielleicht einspart, fallen demnach an anderem Ort wieder an, und kaum in geringerem Umfang.

Die Universitäten haben begonnen, sich auf den vergrösserten Ansturm auf die Latinumskurse (etwa ab 2002) vorzubereiten (siehe Kasten). Ein Ziel ist es, die Lateinanforderungen etwas besser zu koordinieren, was wegen der traditionellen, aber auch sehr wertvollen Autonomie der Fakultäten in Sachen Lehre ein behutsames, geschicktes Vorgehen erfordert. Eine aus Vertretern der Gymnasialrektorenkonferenz, des Schweizerischen Altphilologenverbandes und der Universitäten zusammengestellte Kommission der «Schnittstelle Gymnasium - Hochschule» wird in Kürze versuchen, sinnvolle Lösungen auszuarbeiten.

Neue Wege zum Latinum?

Dabei werden auch Kooperationsmöglichkeiten zwischen Schule und Universität in Sachen Latein geprüft. So könnte in den Kantonen, in denen der gymnasiale Fakultativunterricht nicht (wie zum Beispiel in Zürich) auf einer soliden Grundausbildung in der Unterstufe aufbauen kann, ein Modell hilfreich sein, nach dem dieser Fakultativunterricht die Grundausbildung vermittelt und die Universität den Lektüreunterricht übernimmt. Dieses Modell, das in der Region Basel bereits gut funktioniert, gibt einem Fakultativkurs, der nicht zu ausreichenden Kenntnissen führt - eine Sprachmatura setzt etwa 18 Jahreswochenstunden oder mehr voraus, ein Fakultativkurs umfasst maximal 10 -, ein attraktives und realistisches Ziel und ermöglicht den Studienanfängern, ihr eigentliches Studium sogleich zu beginnen und das Lateinobligatorium rasch und ohne grossen Aufwand zu erfüllen.

Allerdings ist klar zu sagen, dass aus Sicht der Universitäten die Lateinmatura nach wie vor die beste Lösung darstellt. Eine grosse Herausforderung ist hier die starke Reduktion des gymnasialen Unterrichts in diesem polyvalenten Fach, das nach wie vor sehr vielfältige Kenntnisse zu vermitteln hat: Dazu gehört die Einführung in eine fremde Kultur, die dennoch unsere eigene ist, in eine deutlich anders gebaute Sprache, die als Mutter der romanischen Sprachen trotzdem eine unserer Landessprachen genannt werden darf, sowie in eine über 2000-jährige kulturgeschichtliche Kontinuität, die für die Technik und Wissenschaft von heute ebenso fundamental ist wie für Sprachen, Literatur und Kunst.

Es kommt immer häufiger vor, dass Maturanden und noch viel mehr Absolventen von Latinumskursen, mit einigem Bedauern feststellen müssen, dass die soeben abgeschlossene Einführung in diese ziemlich anspruchsvolle, aber auch faszinierende Welt eigentlich ungenügend war (vom meist fehlenden griechischen Hintergrund ganz zu schweigen). Es wird hier in Zukunft vermehrt die Aufgabe der Universität sein, auf freiwilliger Basis weiterführende Angebote für Studierende aller Fächer sowie für «lebenslang Lernende» bereitzustellen, denn viele Stoffe der Altertumswissenschaft sind - gerade wegen ihrer erheblichen Fremdheit - für eine autodidaktische Weiterbildung wenig geeignet, trotz aufwendigen und zum Teil ausgezeichnet gestalteten Hilf- und Lehrmitteln.

Reform des gymnasialen Unterrichts

Auch der gymnasiale Lateinunterricht wird weitere Reformen erfahren müssen. Diskussionen sind bereits im Gange. Die sprachliche Grundausbildung muss zeitlich (noch mehr) gestrafft und konsequent in die Hände der fachlich kompetentesten Lehrkräfte gelegt werden. Die verschiedenen Unterrichtsziele sind klarer herauszuarbeiten, direkter und teilweise auch mit anderen Mitteln anzusteuern (etwa Ergänzung des Unterrichts durch Textlektüre in Übersetzungen, wie sie schon vielerorts üblich ist; warum nicht auch einmal etwas Griechisches, Babylonisches, Ägyptisches?), und die Resultate müssen für Schüler und Eltern besser erkennbar gemacht werden. Für einen Teil der Lehrinhalte ist eine regelmässige Kooperation mit anderen Fächern aufzubauen (zum Beispiel für Literatur- und Sprachgeschichte sowie für Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften), dies auch zum Zweck einer kohärenteren Vernetzung der Schulbildung, an der heute alle interessiert sein müssten.

Stark gefordert sind auf der anderen Seite die Schulen und Schulbehörden, die versuchen müssen, auch unter dem MAR 95 möglichst viele möglichst gut ausgebildete Lateinmaturanden an die Universitäten zu entsenden. Auch unter den Medizinern, Juristen, Natur- und Wirtschaftswissenschaftern, für deren Studiengänge Kenntnisse in den Sprachen und Kulturen der Antike heute nicht mehr gefordert werden, müssen in Zukunft ein paar überzeugte «Lateiner» sein, für die der reiche historische Hintergrund ihrer Fächer kein Buch mit sieben Siegeln darstellt und die sich deshalb auch am wissenschaftsethischen Diskurs über Forschung und Anwendung in ihrem Bereich nicht nur mit vollem fachlichem Know-how, sondern auch mit besonders weitem kulturwissenschaftlichem Horizont beteiligen können.

Verhältnis zwischen Englisch und Latein

Bei der Reflexion seitens der Schulen und Schulbehörden, wie die Situation des Lateins verbessert werden kann, müssen viele Kantone das Verhältnis zwischen den Fächern Latein und Englisch, das, wie erwähnt, bei der MAR-Umsetzung als Grundlagenfach gegenüber Latein weitherum institutionell bessergestellt worden ist, nochmals gut überdenken. Es ist keine Frage: Heute müssen alle Jugendlichen Englisch lernen. Aber ebenso klar ist, dass nur eine kleine Minderheit von Maturandinnen und Maturanden für ihre Zukunft jahrelangen Unterricht in englischer Literatur braucht. War es richtig, Englisch für praktisch alle Mittelschüler zum Maturfach zu erheben?

Wäre es nicht ebenso sinnvoll, für die Jugendlichen, die während ihrer Schulzeit etwas anderes lieber lernen würden, gezielt Sprachkurse anzubieten, zum Beispiel «Englisch für angehende Akademiker» als Fakultativfach, mit dem Angebot eines oder zweier Sommerkurse im Sprachgebiet und schliesslich der Möglichkeit zum Erwerb etwa eines First oder Advanced Certificate oder in Einzelfällen gar eines Proficiency (immer mit Eintrag im Maturitätszeugnis)?

Damit würde willkommene Luft für andere Maturitätsfächer entstehen, die man später (falls sie nicht Studienfach werden) kaum selbständig weiter vertiefen kann, speziell Mathematik und Naturwissenschaft, und zwar ohne den faktischen Zwang zum Verzicht auf das Latein, wie er jetzt vielerorts herrscht.

Formen der Umsetzung des MAR

Einige Kantone, speziell Zürich und Solothurn, haben durch die Definition einiger weniger gymnasialer Profile zur Vermeidung des organisatorischen Chaos eines regellosen Wahlfachsystems sowie durch gute Ankoppelung der gymnasialen Unterstufe das MAR 95 besonders geschickt umgesetzt. Hier sind denn auch die Lateinmaturandenzahlen durch das MAR viel weniger stark und weniger schockartig gesunken als anderswo. Es wäre zu wünschen, dass andere Kantone sich diesen Erfahrungen nicht vorschnell verschliessen würden. Durch klare Profilierung könnte man auch eine besonders groteske Konsequenz des unter der Fahne der Fortschrittlichkeit propagierten Wahlfachsystems etwas neutralisieren, nämlich die Tendenz, dass die Mehrzahl der Mädchen (68 Prozent) ein musisches, pädagogisch-psychologisches oder neusprachliches, die Mehrheit der Knaben (76 Prozent) aber ein mathematisch- naturwissenschaftliches oder wirtschaftliches Schwerpunktfach wählen (Zahlen des neuesten Jahrgangs eines Berner Gymnasiums).

In diesem Zusammenhang ist eine noch zu wenig beachtete Folge des MAR zu erwähnen, nämlich dass heute Griechisch an den Schulen vom Latein unabhängig gelernt werden kann - teilweise allerdings auf einem meist zweijährigen Lateineinführungskurs auf der gymnasialen Unterstufe aufbauend. In Reaktion darauf akzeptieren bereits zahlreiche Fächer in verschiedenen Fakultäten eine Griechischmatur als Äquivalent.

Was sich im täglichen Leben zeigt, gilt auch im Falle des Faches Latein: Ein gutes Produkt, vor allem wenn es relativ kostengünstig zu produzieren und von dauerhafter Qualität ist, ist nicht leicht vom Markt zu verdrängen. Freilich, es braucht Instanzen, die unlauteren Wettbewerb und Kartelle verhindern. Hier muss wohl manche bildungspolitische Instanz in unserem Lande mit Blick auf die Stellung des Lateinunterrichts noch einmal über die Bücher gehen. Wichtig ist korrekte Information durch die Behörden. Solange an Sekundarschulen erzählt wird, für das Studium moderner Sprachen brauche es kein Latein (dem Autor sind mehrere Fälle aus dem Kanton Bern bekannt), liegt noch vieles im Argen.

Auch das «Marketing» muss stimmen

Da die Themen der Klassischen Antike im heutigen Leben weniger präsent sind als noch vor wenigen Jahrzehnten, ist auch bei der inhaltlichen Aufklärung auf eine gute Breitenwirkung zu achten. Eine interessante Möglichkeit, ein System zu korrigieren, das Gefahr läuft, den Kontakt der Jugendlichen zur Klassischen Antike zu marginalisieren, ist im Kanton Neuenburg gefunden worden. Dort wird in naher Zukunft für die 7. und 8. Klasse (und zwar für alle, die ins Gymnasium übertreten wollen) ein Fach «langues et cultures de l'Antiquité» eingeführt, das dazu beitragen soll, dass unsere Jugendlichen die Distanz zu jener wichtigen Epoche früh gedanklich überwinden und leichter für eine weitere, vertiefte Beschäftigung mit den Klassischen Sprachen und Kulturen gewonnen werden können.

Gefordert sind schliesslich ganz besonders auch die Altertumswissenschaften an den Universitäten. Durch eine ganzheitliche Perspektive und die Verwendung moderner Kommunikationsmethoden wird es bestimmt möglich sein, auch in der heutigen Zeit die vielfältigen Aspekte in Literatur, Sprache, Geschichte, Politik, Kunst, Alltag, Religion, Philosophie, Wissenschaft, die die Antike oft so modern erscheinen lassen, auch einem breiten Publikum wieder näherzubringen. Wie gesagt: Das Produkt ist gut. Und das wird, wenn auch das Marketing stimmt, unserer Jugend bestimmt nicht entgehen.

 

Anmerkung: An der KZU belegen seit Einführung des neuen Lehrplans bei der Profilwahl über 50-60% unserer Zweitklässlerinnen und Zweitklässer das sog. Altsprachliche Profil mit Latein und/oder Griechisch. Damit steht die KZU seit zwei Jahren an der Spitze aller Kantonsschulen im Kanton Zürich!

 

 


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