Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

NZZ ZEITFRAGEN Samstag, 08.07.2000 Nr.157   87

 

An den Brüsten der Isis

Von Erik Hornung*

Schon in der Antike galt Ägypten als das Land des uralten Wissens, als tiefste Quelle allen Geheimwissens. Auf dem Umweg über Griechenland und Rom hat diese Überlieferung Eingang in die europäische Geistesgeschichte gefunden und lebt heute in gewandelter Form in vielen Lebensbereichen fort. Insbesondere schöpfen auch die modernen esoterischen Strömungen in einem überraschenden Ausmass aus dieser Quelle.

Als man in der Französischen Revolution nach Alternativen zum christlichen Glauben und zum christlichen Kalender suchte, boten sich altägyptische Formen an, die damals jedem Gebildeten vertraut waren. Isis galt als Göttin der Natur und der Vernunft, und der ägyptische Kalender, der ohne Schaltung auskam und den Monaten einheitliche Länge zuwies, bestach durch seine Einfachheit. Man glaubte, er sei ein Werk des Hermes Trismegistos, des «dreimalgrössten» Weisheitsgottes, dem die Menschheit jegliche Kultur verdanke.

Für die hohe Wertschätzung Altägyptens konnte sich die Aufklärung auf die Autoren des Altertums und vor allem der Spätantike berufen. Den Griechen als Vertretern einer noch jungen Kultur war es ein Erlebnis, in Ägypten einer zeitlichen Tiefe von vielen Tausenden von Jahren gegenüberzustehen. Noch Diodor, Plutarch und andere sind erfüllt von Ehrfurcht vor der uralten ägyptischen Priesterweisheit; Platon schöpft seine Kenntnis über den versunkenen Kontinent Atlantis aus dieser Quelle, und er schreibt die Erfindung der Schrift dem ägyptischen Gott Thot zu.

Diodor, der kurz vor der Regierung Kleopatras an den Nil gereist ist, führt sogar den Ursprung der Götter auf Ägypten zurück; dabei steht das Götterpaar Isis und Osiris im Vordergrund, überzeugend allein schon durch die zeitlose Menschlichkeit seines Schicksals, wie es der Osiris- Mythos beschreibt. Isis erweckt den ermordeten Brudergemahl zu neuem Leben, schenkt ihm einen Erben und bewahrt diesen, das Horuskind, vor allen Gefahren. Als er herangewachsen ist, erkämpft Horus das Erbe seines Vaters und stellt so die richtige Ordnung wieder her. Von römischen Legionären und Kaufleuten wurde der Isis-Kult durch ganz Europa verbreitet und fand erst durch das Christentum ein Ende.

Reiseland seit der Antike

Rom macht sich sogleich daran, das nach der Niederlage der Kleopatra (30 v. Chr.) eroberte Nilland auszuplündern. Bereits unter Augustus gelangen die ersten ägyptischen Obelisken nach Italien, mit ihnen auch Statuen und andere Kunstwerke, mit denen kaiserliche Bauten und Isis-Heiligtümer geschmückt werden. Dazu entfaltet sich ein Tourismus, an den sich nahtlos die christlichen Pilgerreisen anschliessen; Ägypten wurde zum klassischen Reiseland und ist es, allen Rückschlägen zum Trotz, bis heute geblieben.

Astrologie und Alchemie berufen sich auf ägyptische Wurzeln und auf die Weisheit des Hermes. Für beide Geheimwissenschaften wurde Alexandria zum bedeutenden Zentrum. Im Falle der Alchemie, der wichtigsten unter den «hermetischen 187 Wissenschaften», ist die Berufung auf Ägypten durchaus berechtigt, war doch das alte Ägypten mit seinen Bauten ein «Staat aus dem Stein» (so der Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers), dem überdies das Gold als eine göttliche Substanz galt; dazu weist das Werk des Alchemisten erstaunliche Parallelen zum Mythos von Osiris auf, aus Verfall und Verwesung wird hier neues Leben gewonnen. Als Schöpfung des Hermes galt die geheimnisvolle Tabula Smaragdina, zu der sogar Isaac Newton einen Kommentar verfasste. Der kurze Text, der angeblich im Grab des Hermes gefunden wurde, formuliert das zeitlos gültige hermetische Prinzip der universalen Entsprechung: «Wie drunten, so auch droben.»

Für das junge Christentum verkörperte die ägyptische Religion alle Greuel des Heidentums; trotzdem hatte es keine Scheu, an ägyptische Formen anzuknüpfen. Der Pharao als Gottessohn wurde durch Christus abgelöst, die stillende Isis mit dem Horusknaben durch Maria mit dem Jesuskind. Nach rabbinischen Traditionen verdankt Jesus seine Fähigkeit, Wunder zu wirken, der Kenntnis ägyptischer Zauberkunst, die zu allen Zeiten in höchstem Ansehen stand, bis hin zum Volksbuch vom Doktor Faustus und zum heutigen Glauben an einen «Fluch der Pharaonen», der alle bestraft, die ägyptische Gräber entweihen.

Im Mittelalter wurde Hermes Trismegistos von den meisten Scholastikern als Autorität und «Vater der Philosophie» anerkannt; sie konnten dabei positive Zeugnisse bei den Kirchenvätern heranziehen, war doch für Augustin Hermes nicht nur ein «Meister vieler Künste», sondern geradezu Prophet und Vorläufer der christlichen Lehre. Für die Gelehrten der Renaissance öffnet sich dadurch ein Freiraum neben der biblischen Offenbarung. Marsilio Ficino übersetzt 1463 in Florenz das Korpus der hermetischen Schriften noch vor den Dialogen Platons, da in ihnen eine noch ältere, ursprüngliche Philosophie fassbar werde. Durch die Ausmalung der Sala dei Santi durch Pinturicchio im Jahre 1495 findet Hermes Trismegistos neben Isis, Osiris und dem Apis-Stier sogar Eingang in den Vatikan.

Neu entdeckt wird in dieser Zeit vor allem die Spätantike, damit auch ihre reich entfaltete Überlieferung über die uralte Weisheit der Ägypter. Sogleich treten die Hieroglyphen wieder in den Vordergrund des Interesses, als Zeugen einer Ursprache, in der vielleicht schon Gott und Adam miteinander verkehrten. Für Vadian (Joachim von Watt, 1484-1551) aus St. Gallen wird die Erfindung der Buchstaben, die Hermes mit den Hieroglyphen gelungen sei, erst zu seiner Zeit durch die Erfindung des Buchdrucks übertroffen. Die Hieroglyphen der Renaissance haben allerdings mit den altägyptischen nichts gemein, da man auf originale Quellen erst später zurückgriff. Aber kein Geringerer als Raffael brachte die Pyramide als Form des Grabmals neu zu Ehren, und zugleich traten auch die Formen von Obelisk und Sphinx einen Siegeszug durch die europäische Kunstgeschichte an, aus der sie nicht mehr fortzudenken sind.

Wurzeln der Esoterik

Giordano Bruno, der vor vierhundert Jahren als Ketzer verbrannt wurde, stellt die «gute Religion» der Ägypter als Gegenbild dem entarteten Christentum gegenüber. Seine Idee vom unendlichen, allbeseelten Weltall ist aus hermetischem Geist geboren, der die ganze Natur mit göttlichen Kräften erfüllt und damit den Anstoss für die Entstehung einer modernen, vom kirchlichen Glauben unabhängigen Naturwissenschaft gab. In der Geisteswissenschaft fasst Athanasius Kircher (gestorben 1680) das gesamte damalige Wissen über Ägypten zusammen und sucht es mit dem, was inzwischen über Indien, China und Altamerika bekannt geworden war, in eine grosse systematische Ordnung zu bringen.

Die Bewegung der Rosenkreuzer im 17. Jahrhundert verbindet ihren legendären Stifter Christian Rosenkreuz mit Ägypten, wo er sich das geheime Wissen der alten Kultur angeeignet habe, und trägt zum weiteren Ruhm des Hermes Trismegistos bei. Das Ziel der Rosenkreuzer ist, sehr anspruchsvoll, «eine allgemeine Reformation der ganzen weiten Welt», und das Echo in ganz Europa war zunächst gross, bis der Dreissigjährige Krieg alle Hoffnungen auf eine Besserung zunichte machte. Was aber blieb und von der Bewegung der Freimaurer später übernommen wurde, ist eine Ordensgeschichte, die über alle Weisen des Altertums bis zur ägyptischen Urweisheit zurückreicht, in die auch Moses nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte eingeweiht wurde.

Epoche machte dann Jean Terrasson mit seinem Roman «Séthos» (1731), in dem zum ersten Mal ein Einweihungsritual in der Grossen Pyramide beschrieben wird, zu dem vor allem der Gang durch die vier Elemente gehört. Dieses Motiv wurde sogleich von den Freimaurern und am eindrucksvollsten in Mozarts «Zauberflöte» aufgegriffen; in der Folge haben es dann Theosophen, Anthroposophen und viele andere esoterische Strömungen übernommen.

Goethe, der an Lavater von der «Pyramide meines Lebens» schrieb, war vor allem von ägyptischen Bauformen beeindruckt, von der «Grossheit» Ägyptens, von der auch Rilke spricht. Den Dichtern der Romantik ging es um andere Zugänge, sie wollten im Hieroglyphenbuch der Natur lesen und den Schleier der Isis heben, von dem Plutarch kündet; dieser berichtet von einem Götterbild in Sais mit der Aufschrift «Ich bin alles, was da war, ist und sein wird; kein Sterblicher hat meinen Schleier gelüftet» - für Kant das Erhabenste, was je gedacht wurde. Aufklärung und Romantik bezogen den Spruch auf das Naturgeheimnis und die verschleierte Wahrheit.

Damals entstand die Idee einer geistigen Morgenlandfahrt, wie sie später Hermann Hesse gestaltet hat, als Rückkehr zu den Ursprüngen des Abendlandes. Diesem Zug nach Osten folgte auch Napoleon durch seine Expedition nach Ägypten (1798); mit ihr bewirkte er eine erste Welle der «Ägyptomanie», die überall in der bildenden Kunst zur Nachahmung ägyptischer Formen anregte und sich nach der spektakulären Entdeckung des Tutanchamun-Grabes im Jahre 1922 noch einmal wiederholte.

Kulturelles Gedächtnis der Menschheit

Durch die Hinwendung zur klassischen Antike wurde Ägypten im 19. Jahrhundert als eine eher «exotische» Kultur gesehen, obwohl gerade jetzt die originalen Zeugnisse zum Sprechen gebracht wurden dank der Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch Jean-François Champollion (1822). Seitdem hat die Wissenschaft der Ägyptologie zahllose Bausteine für ein neues Ägyptenbild zusammengetragen, aber bis heute wirkt das von der Antike her geprägte Bild eines «esoterischen», als ideal verklärten Ägypten weiter. Auch wenn man die grossen Gurus heute nicht mehr in Ägypten sucht, sondern sich eher nach Tibet oder Indien wendet, scheinen selbst die «Ausserirdischen» Ägypten als bevorzugten Landeplatz zu sehen, wo sie sich nach der Überzeugung mancher die Pyramiden als Denkmal gesetzt haben sollen.

Auf welche Weise hat die Faszination dieser alten Kultur alle Wechselfälle der europäischen Geistesgeschichte überdauert? Sicherlich durch den Zauber des Geheimnisvollen, der uralten Weisheit, der noch in den modernen Spekulationen um die Geheimnisse der Pyramiden weiterlebt. Aber neben diesem mystischen Ägypten, zu dem auch Hieroglyphen, Mumien und tierköpfige Götter gehören und das nach Herder «die Zauberkraft hat, die besten Leute träumen zu machen», steht die Klarheit seiner Formensprache, die auch den modernen Menschen unmittelbar anspricht, steht die «Grossheit» dessen, was einst am Nil geschaffen wurde. Hier gründet unser «kulturelles Gedächtnis» am weitesten in der Tiefe der Zeit, denn vor die Anfänge der altägyptischen Kultur führen keine schriftlichen Quellen zurück. Ägypten setzt einen Anfang in der Geschichte der Menschheit, wie es von jeher als Ursprung der Weisheit und aller esoterischen Tradition galt.

Daher möchten die meisten esoterischen Strömungen unserer Zeit solche ägyptische Urweisheit wieder als praktische Lebenshilfe nutzen, verbinden sie allerdings oft mit Yoga, Seelenwanderung und anderem Gedankengut, das Ägypten fremd ist. Man trägt ägyptische Amulette, glaubt an Einweihungs-Erlebnisse in der Grossen Pyramide, an die Wunderkraft ägyptischer Magie und ägyptischer Götter. Die oft gehörte Behauptung, alle grossen Denker hätten aus dieser Quelle geschöpft, steht in antiker Tradition; und sie hat viel für sich, wenn man auf die ägyptischen undercurrents in unserer Geistesgeschichte zu achten beginnt.

Bewältigung von Sexualität und Tod

Der Zerrissenheit und der wechselvollen Geschichte des Abendlandes steht hier die monumentale, in sich ruhende Ganzheit einer Kultur gegenüber, die sich zudem durch eine unverkrampfte Nähe und Bewältigung von Tod und Sexualität auszeichnet - etwas, was wiederum Rilke zutiefst angerührt hat. In Isis verkörpern sich alle heilenden Kräfte des Weiblichen, die das Verlorene wiederfinden, das Zerrissene zusammenfügen und die Gegensätze miteinander versöhnen. Das verleiht Ägypten den humanen Grundzug, den Thomas Mann in seinem Josephs- Roman der Barbarei seiner Zeit - unserer Zeit! - gegenüberstellt.

Im Symbol des Skarabäus-Käfers, das für die tägliche Wiederkehr der Sonne und für «Verwandlung» ganz allgemein steht, hat der Ägypter die regenerierenden Kräfte angesprochen, die bei jeder tieferen Begegnung mit seiner Kultur und Geisteswelt spürbar werden und über die Jahrtausende weiterwirken.

* Erik Hornung ist emeritierter Ordinarius für Ägyptologie an der Universität Basel und Verfasser zahlreicher Bücher und Artikel zur ägyptischen Geschichte und Kultur. Sein neustes Werk heisst: Das esoterische Ägypten. Beck, München 1999.

 

Stiftung eines Isis-Tempels in Baden: Inschrift 

 


Zurück zur Seite "Varia 2000"

Zurück zur Seite "Varia"