Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Latein, Griechisch
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NZZ LITERATUR UND KUNST Samstag, 02.09.2000 Nr.204   84

 

Von Petrarca bis zur Gegenwart

Die Erforschung der neulateinischen Literatur

Von Heinz Hofmann

Die lateinische Literatur, die an Gymnasien und Universitäten gelesen und erforscht wird, entstammt überwiegend der Antike und Spätantike. Daneben konnte sich an einigen Universitäten die mittellateinische Philologie als akademische Disziplin etablieren. Weitgehend vernachlässigt wurde jedoch der gewaltige Bestand der von den Humanisten des 14. bis 18. Jahrhunderts geschriebenen neulateinischen Literatur. Erst seit jüngster Zeit wird ihr erhöhtes Interesse entgegengebracht, so dass sich das Neulatein mittlerweile zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt hat.

Die neulateinische Literatur ist ein wichtiger Teil der lateinischen Literatur, die in ihrer Gesamtheit vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zu lateinischen Texten der Gegenwart reicht, die auch an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert noch stets geschrieben werden und nicht nur päpstliche Enzykliken, sondern auch Gedichte, fiktionale Prosa und wissenschaftliche Abhandlungen umfassen - ja sogar in Kinderbüchern und Comics hat das Latein Einzug gehalten, wie die lateinischen Übersetzungen von «Asterix», «Struwwelpeter» oder «Max und Moritz» zeigen. Im Zentrum des Neulateins stehen jedoch die Texte der Humanisten des 14. bis 16. Jahrhunderts und ihrer Nachfolger im 17. und 18. Jahrhundert, die auf die antiken Vorbilder zurückgegriffen und sich von ihnen zu höchst origineller und produktiver Rezeption haben anregen lassen.

Obwohl die Antike eine wichtige Modellfunktion für diese Autoren hat, sind sie ebenso sehr ihrer eigenen Zeit verpflichtet und können sich deren Einflüssen, insbesondere der Literatur in der jeweiligen Volkssprache, nicht entziehen; denn bekanntlich haben viele von ihnen neben Latein auch in ihrer Muttersprache geschrieben. Manchmal ist dabei das lateinische Œuvre umfangreicher wie bei Petrarca oder Sannazaro, manchmal das in der Muttersprache wie bei Ariost oder Milton.

KONTINUITÄT

Doch ist die neulateinische Literatur nicht nur ein Versuch, der klassischen Antike nachzueifern und sie womöglich zu übertreffen, sondern umgekehrt sie in die eigene Zeit herüberzuretten, ihre Kontinuität zu bewahren und sie für die Gegenwart zu funktionalisieren. Personen und Ereignisse der Zeitgeschichte werden daher von den neulateinischen Autoren häufig in Personen der Antike eingeformt: Könige und Päpste, Fürsten und Condottieri werden zu epischen Helden wie Aeneas und Achill, ihre Kriege werden den Kämpfen in Troja oder Latium gleichgesetzt, die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus und ihre Eroberung für Spanien wird mit den Irrfahrten des Aeneas und seiner Gründung eines künftigen Weltreichs parallelisiert, der Geliebten huldigt man in Elegien wie Properz seiner Cynthia, seine Feinde schmäht man in Epigrammen nach dem Vorbild von Catull und Martial, man beklagt die Bitterkeit des Exils in Anlehnung an Ovid, man verfasst Geschichtswerke wie Livius und stilisiert die Feldherrn zu neuen Scipios und Hannibals, man schreibt Briefe wie Cicero und der jüngere Plinius - kurzum, das ganze Spektrum antiker Gattungen und Ausdrucksmöglichkeiten wird verwendet, um die Gegenwart an der Vergangenheit zu messen, sie ihr gegenüber zu erhöhen und so der Gegenwart eine neue Deutung und Legitimation zu geben.

Damit tun die neulateinischen Autoren jedoch nichts anderes als die zeitgenössischen Maler, Bildhauer und Architekten, die ihre Gegenwart ebenfalls als wiedergeborene Antike interpretieren, wenn sie die Herrscher als Aeneas und Achill, als Scipio und Augustus abbilden, wenn sie die Schlösser und Gärten mit Statuen aus der antiken Mythologie und Geschichte bevölkern, wenn auf Gemälden die Fürsten und Könige in Gesellschaft von Apollo und den Musen, von Mars und Minerva dargestellt sind, ihre Gemahlinnen und Mätressen als Venus und Nymphen erscheinen, wenn ihnen in ihren Jagdschlössern Diana mit ihrem Gefolge von Wänden und Decken entgegenlacht oder wenn in den Städten und Residenzen Tempel und Triumphbogen, Theater und Paläste entstehen, wie man sie aus Vitruvs Handbuch der Architektur und den Resten antiker Monumente nachzubauen gelernt hat.

Nicht zuletzt legten die Habsburger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation grössten Wert darauf, ihre dynastische Linie von den römischen Kaisern herzuleiten, als deren legitime Erben sie sich fühlten, und liessen sich von Hofhumanisten wie Konrad Peutinger, Johannes Cuspinianus oder Wolfgang Lazius Biographienreihen nach dem Vorbild von Suetons Kaiserbiographien konstruieren. Wie allgegenwärtig die Antike noch in der Zeit der Französischen Revolution war, hat Claude Mossé in seinem Buch «L'Antiquité dans la Révolution française» (1989) gezeigt. Ein kennzeichnendes Detail dafür ist die Petition der Volksversammlung der kleinen Ortschaft Saint-Maximin im Département Var vom 25. Brumaire des Jahres II (16. November 1793), mit der beantragt wurde, den Namen der Ortschaft in Marathon ändern zu dürfen: nicht nur weil dieser ehrwürdige Name auf immer mit dem Freiheitskampf gegen die Perser verbunden sei, sondern auch weil er an den grossen Volksfreund Jean Paul Marat erinnere . . .

Die Menschen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert lebten also in der Antike mit jener für uns kaum mehr nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit, mit der etwa Petrarca Briefe an Cicero und andere berühmte Männer Roms schrieb und mit ihnen ein Zwiegespräch über mehr als ein Jahrtausend hinweg führte. Das Medium, in dem er und die anderen Humanisten sich ausdrückten, war das Lateinische: ein seit dem Ende der Antike kontinuierlich verwendetes Idiom, das von Gebildeten für Gebildete geschrieben, gesprochen und tradiert wurde. Freilich wurde es mit dem Aussterben der letzten «native speakers» im 7. Jahrhundert zu einer Kunstsprache, die mühsam erlernt werden musste: Doch brachten es viele zu einer so grossen Gewandtheit, dass sie nahezu mühelos fliessend Lateinisch schrieben, sprachen und dachten. In diesem Zeitraum von etwa 650 bis 1350 hatte sich das Latein als lebendige Sprache natürlich verändert: Einerseits hat es viele Regeln der Syntax und der Formenlehre des antiken Lateins abgestreift, andrerseits viele neue Wörter für die veränderten Ausdrucksbedürfnisse in Alltag und Politik, Theologie und Philosophie geprägt, aber auch grammatische Erscheinungen aus den Volkssprachen aufgenommen, so dass es sich mittlerweile erheblich vom Latein eines Cicero und Caesar, Vergil und Ovid unterschied.

Eine Kunstsprache blieb das Lateinische auch in den folgenden Jahrhunderten, jedoch mit dem Unterschied, dass die Humanisten des 14. und 15. Jahrhunderts - Petrarca, Valla, Poliziano, Poggio und andere - sich mit neuem Interesse dem antiken Latein zuwandten, nachdem sie auf ihren Streifzügen durch die Klöster halb Europas zahlreiche Handschriften mit bisher unbekannten Werken antiker Autoren entdeckt hatten: Ciceros Briefe und Quintilians Rhetoriklehrbuch, die Annalen und Historien von Tacitus, die Elegien von Tibull und Properz, die Epen von Silius Italicus und Valerius Flaccus oder die Romane von Petron und Apuleius. Deren Latein war für sie die Sprache Roms, als es auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und ein ganzes Weltreich beherrschte. Jetzt, in ihrer eigenen Zeit, lagen Rom und Italien zersplittert darnieder, in zahlreiche Kämpfe einzelner Stadtstaaten entzweit, Rom selbst von rivalisierenden Adelsparteien erschüttert, während der Papst seit 1309 in Avignon in «babylonischer» Gefangenschaft residierte. Die Rückkehr zu den Normen des antiken Lateins war daher eine Rückkehr zu Roms einstiger ruhmvoller Grösse; denn nur auf diese Weise, so meinten jene Humanisten, sei es möglich, Italiens moralischen und kulturellen Vorrang zu behaupten, da kein Barbar von nördlich der Alpen jemals imstande sein würde, mit ihnen in der perfekten Beherrschung des Lateinischen zu konkurrieren.

POLITISCHE UTOPIE

Die Geburtsstunde dessen, was wir mit einem modernen Begriff «Neulatein» nennen, war also primär mit einer politischen Utopie verbunden: der Wiederherstellung des römischen Reichs der Antike auf der Grundlage seiner Sprache und Literatur. Dass damit in den Schriften der Humanisten nicht nur das Konzept einer «Antike», so wie wir sie verstehen, überhaupt erst erfunden wurde, sondern auch die italienische Nation, ist eines jener fruchtbaren Missverständnisse, auf denen unsere Kultur beruht. Für die Humanisten war das, was sie schrieben und sprachen, jedoch kein Neulatein, sondern das Latein der Antike, das als gemeinsame Sprache der Gebildeten die kulturelle Voraussetzung für die ersehnte politische Renaissance bilden sollte. Dass dabei auch eine Reinigung des Lateinischen impliziert war, ergab sich aus der Sache, betraf aber nur die Auswüchse der scholastischen Begrifflichkeit und Verwilderung der Grammatik. Mittelalterliche Literatur wurde von den Humanisten nicht generell abgewertet. Das zeigt ihre Hochschätzung von Meisterwerken wie der «Alexandreis» Walter von Châtillons, der Dramen Hrotsviths von Gandersheim, des Barbarossa-Epos «Ligurinus» oder der Chronik Ottos von Freising. Der Begriff «Neulatein» bürgerte sich erst vor etwa 100 Jahren ein, so wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Begriff «Mittellatein» für eine neue wissenschaftliche Disziplin - die lateinische Philologie des Mittelalters - sich herausgebildet hat. Während die mittellateinische Philologie jedoch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zur universitären Disziplin wurde, hat es fast noch einmal drei Generationen gedauert, bis 1966 mit dem Seminarium Philologiae Humanisticae in Löwen das erste Institut für Neulatein an einer europäischen Universität gegründet wurde.

Warum aber wurde die neulateinische Literatur so spät als eine eigenständige Literatur begriffen und wurde so spät zur wissenschaftlichen und akademischen Disziplin? Dafür lassen sich mehrere Faktoren namhaft machen, die nicht nur im Wandel der ästhetischen Auffassungen begründet sind, sondern auch in den Veränderungen der historischen und politischen Situation um 1800. Die Ästhetik der Goethe-Zeit und die daraus für die Dichtung der Folgezeit abgeleitete Poetik legte die Akzente auf Originalität und echte Empfindung: Der Dichter sollte im literarischen Kunstwerk sein eigenes Ich zum Ausdruck bringen. Diese einseitige Betonung individueller Kriterien führte in der Romantik zur Verabsolutierung des poetischen Originalitäts-, Erlebnis- und Geniekonzepts, dem gegenüber alle Bindung an literarische Traditionen und das kunstvolle Spiel mit diesen Traditionen abgewertet wurden. Eine solche Auffassung musste der neulateinischen Literatur, die sich in besonderem Masse als traditionsgebunden versteht und gerade in der Auseinandersetzung mit den antiken Werken ihr literarisches und ästhetisches Profil sucht, jeglichen ästhetischen Rang absprechen.

PARADIGMAWECHSEL

Dieser Paradigmawechsel fand zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine politisch motivierte Umsetzung in einem Klassizismus, der seinen Ursprung in den preussischen Reformen infolge der Niederlage in den napoleonischen Kriegen hatte. Der zentrale, bereits im deutschen Idealismus formulierte Gedanke war die Rückkehr zu den Griechen, die in vorbildhafter Weise das ideale Reich des Wahren, Guten, Schönen verkörperten und an deren hohen Idealen sich der Mensch der Gegenwart messen musste. Mit der Abwendung von der römischen Antike verbanden sich zudem eine dezidierte politische Frontstellung gegen Frankreich und eine Ablehnung der lateinisch- romanischen Tradition, die mit Frankreich identifiziert wurde. Die Hinwendung zu den Griechen war daher vor allem eine politische Option und bestimmte nicht nur die nationale Identitätsbildung der nächsten 100 Jahre, sondern auch die zunehmende Distanzierung Deutschlands von seinem wichtigsten Nachbarn. Wilhelm von Humboldt führte das Programm der Griechennachfolge in seiner Schrift «Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere» (1793) weiter aus. Der Hallenser Professor Friedrich August Wolf setzte diese Gedanken 1807 in seinem Konzept der «Altertumswissenschaft» in ein Bildungs- und Unterrichtsprogramm um, das in seinem ausschliesslich auf die griechische und die römische Antike konzentrierten Ansatz die positivistische und historistische Ausrichtung der klassischen Philologie für die folgenden 150 Jahre bestimmte. Die neulateinische Literatur, die keine Nationalliteratur im Sinne des entstehenden Nationalismus war, blieb daher in Wolfs Konzept ausgeschlossen und verschwand aus der lateinischen Schul- und Universitätsphilologie.

Damals wurde die ursprüngliche Einheit der lateinischen Literatur, die Kontinuität der Tradition von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert zerbrochen, die Selbstverständlichkeit, mit der in den Lateinschulen Texte der klassischen Antike, der Spätantike und der Literatur der eigenen Zeit nebeneinander gelesen wurden, war beendet. Damit konnte auch die lateinische Literatur in jene drei grossen Epochen Antike, Mittelalter und Neuzeit rubriziert werden, in die man seit dem 18. Jahrhundert die politische Geschichte einzuteilen gewohnt war. Nun war der Weg frei für eine Konzeptualisierung dieser Epochen und ihrer kulturellen Hervorbringungen durch die historisch-positivistischen Wissenschaften, deren Vertreter sich beeilten, sie in den Dienst nationaler und politischer Interessen zu stellen. Dem Rückgriff der Humanisten in die Antike entsprach zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Rückgriff der Gelehrten ins Mittelalter. Wir ihre Vorgänger 400 Jahre früher wollten auch sie in den Zeiten politischer Zersplitterung nach dem Ende des alten Reiches und der Befreiungskriege (1813/14) das Ideal eines neuen und starken deutschen Kaiserreiches beschwören und als Ersatz für die fehlende politische Einheit die geistige und kulturelle Einheit Deutschlands wissenschaftlich beweisen. Dies ist die Zeit der «Erfindung» des Mittelalters und seiner Usurpierung für metawissenschaftliche Zwecke.

Dagegen wurde die Zeit, in der das an den antiken Vorbildern orientierte Latein neu gepflegt wurde, als Epoche mit Jacob Burckhardts Konzeption der «Kultur der italienischen Renaissance» (1859) erst relativ spät «erfunden», und es dauerte nochmals länger als eine Generation, bis die neulateinische Literatur ihre erste wissenschaftliche Darstellung erfuhr und sich als eigenständige Periode der Sprach- und Literaturgeschichte konstituieren konnte. Aus dieser historischen Verspätung der neulateinischen Literatur als Objekt wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis resultieren die Defizite, die sie im Vergleich mit ihren älteren Schwesterdisziplinen besitzt, und die Aufgaben, die sie in der Erforschung ihres Gegenstandsbereiches zu erfüllen hat.

LINGUA FRANCA

Das Latein verband in Mittelalter und Neuzeit die Intellektuellen Europas von den Mönchen in Irland bis Unteritalien und von der Iberischen Halbinsel bis Polen, von den wandernden Scholaren bis zu den Studenten und Gelehrten der Neuzeit, die an den Universitäten in Oxford und Cambridge ebenso zu Hause waren wie in Paris und Orléans, Löwen und Leiden, Coimbra und Saragossa, Salerno und Bologna, Prag und Krakau, Rostock und Erfurt, aber auch in Lima und Mexiko, wo die Spanier 1551 und 1553 Universitäten gründeten, in Santa Fé de Bogotá, wo die Dominikaner 1563 eine Lateinschule errichteten, in Quito, das 1622 eine Jesuitenuniversität erhielt, oder in Havanna, das 1728 Universitätsstadt wurde. Überall dort wurde in Latein gesprochen und gelehrt, geschrieben und gedacht, disputiert und publiziert, und die Absolventen brachten ihr Latein in ihre spätere Tätigkeit in Wissenschaft und Unterricht, Philosophie und Theologie, Recht und Politik, Diplomatie und Militär ein und bedienten sich damit eines Mediums, das gerade dadurch, dass es niemandes Muttersprache war, den unschätzbaren Vorzug der Neutralität und Ubiquität besass: Es war gleichsam der pragmatische gemeinsame Nenner der internationalen Kommunikation auf allen Gebieten. Freilich barg der künstliche Charakter des Lateinischen als internationaler Verständigungssprache auch Gefahren, die bald offen zutage treten und schliesslich zu seinem Verschwinden führen sollten: Durch den Aufstieg Frankreichs zur führenden europäischen Macht drang das Französische als Sprache der Diplomatie immer weiter vor und wurde im 18. Jahrhundert auf Kosten des Lateinischen die lingua franca in Politik, Wissenschaft und Kultur. Daneben löste auch das Spanische in der neuen Welt zunehmend das Latein ab, das sich als Gelehrtensprache immer schwerer behaupten konnte, bis es sich im 19. Jahrhundert auf den akademischen Bereich zurückzog und im 20. Jahrhundert seine Funktion als aktives Verständigungsmittel weitestgehend eingebüsst hatte.

Da nach dem Verlust der kulturellen Einheit Europas auch das Latein als das gemeinsame kulturelle Band verloren ging, ist jetzt, im Zeichen der politischen Einigung Europas, das Bedürfnis nach einer neuen geistigen und kulturellen Einheit grösser denn je. Wenn auch auf europäischem Gebiet endlich «zusammenwächst, was zusammengehört», so darf diese europäische Identität nicht nur im Wegfall von Grenzen und in der Einführung des Euro bestehen. Wichtiger ist eine neue Renaissance: die der gemeinsamen Vergangenheit, die Entwicklung einer neuen Sensibilität für die gemeinsame Geschichte und Literatur, die allen Europäern bewusst werden lässt, dass die Gegenwart nicht nur eine gemeinsame Zukunft hat, sondern eine noch wichtigere gemeinsame Vergangenheit. Wenn ohne Kenntnis der Antike Europa nicht zu haben ist, wie unlängst Ulrich Greiner in der «Zeit» (Nr. 27/00) feststellte und dabei auf das Wort von Botho Strauss verwies, dass die europäische Elite ihrer Herkunft begegnen müsse, so darf die Antike nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist in der Geschichte der permanenten Auseinandersetzung der europäischen Dichter, Schriftsteller und Wissenschafter mit den von ihr bereitgestellten Texten, Konzepten und Denkmodellen zu sehen. In dieser Debatte von Bewahrung und Innovation könnten auch die neulateinischen Studien ihre neue geschichtliche Funktion erfüllen.

 


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