Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 2. Februar 2002, Nr. 27, Seite 79

 

Beginnt Europa bei den Griechen?

Die Vorgeschichte eines Sonderwegs

Von Christian Meier

Die griechische (und römische) Antike ist zum Bildungsgut geworden; nicht einmal mehr das scheint sie noch zu sein. - In Wahrheit ist das, was man unter «Europa» realhistorisch verstehen könnte, ohne die Griechen undenkbar.

Europa bewegt sich spätestens seit 1500 auf einem Sonderweg. Schliesslich waren es die Länder des Subkontinents und nicht China, Indien oder das Reich der Osmanen, die die Welt weit über ihre Grenzen hinaus entdeckten, zum Teil sich unterwarfen und insgesamt dauerhaft in ihren Bann zogen. Und es war Europa (samt seinem Ableger, den Vereinigten Staaten), das die Lebensformen der Neuzeit, Staat, Wissenschaft, Freiheit, Demokratie usw. entwickelte. Wie aber ist es dazu gekommen?

Eine der interessantesten Fragen in diesem Zusammenhang ist, wieweit dieser Sonderweg schon in der Antike vorbereitet, vielleicht gar ermöglicht worden ist. Was haben die Griechen dazu beigetragen, jenes Volk, das in der ersten Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrtausends seinerseits einen Sonderweg einschlug, indem es eine Kultur bildete ohne prägenden Einfluss von Monarchen, zugleich in einer Unzahl von selbständigen Städten? Früher galt der Anfang Europas bei den Griechen als selbstverständlich. Heute muss er neu begründet werden.

Man hat allen Anlass, die frühen Schöpfungen der Griechen zu bewundern, Homer, die Lyrik, die archaischen Statuen. Aber entscheidend für die Nachwirkung war doch wohl, was im fünften Jahrhundert in Athen geschah.

Der grösste Teil dessen, was von der literarischen Überlieferung der Griechen mit gutem Grund ins allgemeine Bewusstsein des Abendlandes eingegangen ist - Tragödie, Geschichtsschreibung, Philosophie -, ist in einer einzigen Stadt und in wenigen Jahrzehnten hervorgebracht worden; nicht nur von Athenern, aber von solchen, die dort lebten oder jedenfalls stark durch das, was dort geschah, bestimmt wurden. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn nicht das ausserordentliche Werk dieser Kultur im fünften und frühen vierten Jahrhundert und die ausserordentliche Geschichte Athens in dieser Zeit aufs Engste zusammenhingen.

EINE UMWÄLZUNG

Wir haben es mit einem der abenteuerlichsten Jahrhunderte der Geschichte zu tun: Eine Bürgerschaft, etwa 40 000 männliche erwachsene Bürger, wird quasi über Nacht vom Kanton zur Weltmacht. Sie hat grosse Politik zu treiben, ohne irgendwie darauf vorbereitet zu sein. Das von ihr dominierte Bündnis der Griechen wird in Kürze zu einem Herrschaftsbereich Athens. Was - ausser Sparta, für das aber sehr besondere Bedingungen gelten - keiner griechischen Stadt vorher und nachher gelungen ist, geschah hier. Athen begründet Macht weit über das Weichbild der eigenen Stadt hinaus, und zwar über See, und auf Jahrzehnte; und nahezu aus dem Stand.

Athen führt eine radikale Demokratie ein. Der Grundsatz, dass, wenn alle von Entscheidungen betroffen werden, alle sie auch treffen sollen, wird in ungeheuerlicher Radikalität erstmals und nur hier verwirklicht: Die wichtigsten Entscheidungen fallen wirklich in der Volksversammlung. Die Bürgerschaft wird vom Objekt (aristokratischer Führung) zum Subjekt ihrer Politik - mit all der Verantwortung und all den eventuell bis in den Schlaf hinein verfolgenden Problemen, die so etwas mit sich bringt. Erstmals steht die Ordnung einer Stadt zur Disposition ihrer Bürger, und zwar unter der denkbar radikalsten Alternative: ob erfahrene Adlige (und gestützt auf die Autorität des Adelsrats) mit Hilfe der Volksversammlung die Politik bestimmen - oder ob es das Volk ohne Beschränkung durch ein konkurrierendes Adelsorgan tut.

Erstmals wird auch mit der politischen Gleichheit unter Bürgern Ernst gemacht: Auch die Ärmsten sind einbezogen. Kaum nachvollziehbar, was das für Ängste mit sich gebracht hat: Völlig ungebildete, unwissende kleine Leute können die Mehrheiten derer ausmachen, die über die Politik einer Weltmacht beschliessen. Auch wenn Einzelne, wie Perikles, in der Volksversammlung hohe Autorität beanspruchen können und sie relativ überlegen führen. In all dem und mit all dem zusammen erlebt man in Athen - durch Zuwanderung wie durch Entdeckung neuer Methoden in Handwerk, Haushaltsführung, Rhetorik und anderem - einen ungeheuren Auftrieb menschlichen Könnens, der auch stolz bewusst wird.

Zugleich aber muss man erfahren, dass in den so plötzlich so völlig neuen Lagen die herkömmlichen Gewohnheiten, Denk- und Auffassungsweisen und moralischen Massstäbe (und Grenzen) des Handelns nicht mehr ausreichen. Man muss ganz anders handeln, als es unter Griechen bis dahin üblich gewesen war. Eine völlig neue politische Problematik, völlig neue Macht - also auch ganz neue Regeln. Die Urteilsbasis des bisherigen (nomologischen) Wissens erweist sich als unzureichend; jenes allgemeinen und, was bei Demokratien besonders wichtig ist, weithin gemeinsamen Wissens, auf Grund dessen wir beurteilen, was recht und unrecht, richtig und falsch, möglich und unmöglich ist. Jetzt erweist sich, dass vieles, was immer als unmöglich erschienen war, möglich, vieles, was herkömmlich als falsch gegolten hätte, richtig ist und umgekehrt. Recht und Unrecht sind vielleicht weniger unklar, aber was ist, wenn man sich an das Recht oft nicht halten kann, wenn man sich etwa, wie die Athener, bewusst wird, dass die eigene Herrschaft eine Tyrannis ist?

Wo man mit dem Herkömmlichen aber vielfach nicht weiterkommt, wo Neues nicht allmählich heranwachsen kann, muss das Argument an die Stelle der Erfahrung, die Ratio an die der Selbstverständlichkeit (und ihrer Anwendung) treten. Die Reden vor der - zunächst vermutlich ziemlich unwissenden - Volksversammlung bedürfen der rationalen Argumentation. Die politische Ordnung wird völlig neu, auf Grund bewusster Satzungen, gestaltet, wenn man so will: rationalisiert.

POLITISCHE EXISTENZ

Vermutlich ist, angesichts so tiefer Brüche, so rascher Veränderung und Entfernung vom Herkommen, damals alles Wichtige in Frage gestellt worden - ausser dem, was diese Bürgerschaft war und sein wollte: die Bürgerschaft einer Polis, die die politische Ebene klar von der häuslichen (das heisst der Wirtschaft) trennte, die auf Eigenständigkeit und Partizipation grössten Wert legte, die männliche Bürgerschaft - ohne politische Rechte der Frauen -, die Vereinigung der Freien, welche zumeist Sklaven hatten.

Vor allem gingen die Infragestellungen des Herkömmlichen, die Versuche, das Neuerfahrene und die Konsequenzen zu verstehen, die sich daraus im Weiteren ergaben, mit der Ratio also immer weiter vorzudringen, weit über das im engeren Sinne Politische hinaus. Oder anders gesagt: Das Politische war so wichtig, so zentral für diese Bürger, dass mit ihm zugleich die ganze Welt in Frage geriet. Es stellten sich die Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, nach dem Menschsein, den Göttern, dem Kosmos, der Weltordnung neu. Und man hat das offensichtlich ganz wach so empfunden und hat es mit der Summe dieser Herausforderungen aufgenommen.

«Man» - das heisst die Dichter, die Bildhauer und Architekten, die Intellektuellen und die Philosophen, von denen wir es wissen. Aber was sie produzierten, war vielfach - wie Tragödien und Komödien sowie die öffentlichen Bauten - für die breite Bürgerschaft bestimmt, das meiste, wie die Vorträge der Philosophen und Intellektuellen, die Fragen des Sokrates, spielte sich in ihrer Mitte ab; und alles war angeregt, angestachelt durch die Erfahrung dieser Bürgerschaft, die Positionen, die sich dort aufbauten, und die Fragen, die in irgendeiner Weise dort gestellt wurden und die durch das existenzielle Verhaftetsein in dieser Polis und die Verantwortlichkeit für sie und ihre Entscheidungen sich aufdrängten; mehr oder weniger.

Wenn Jacob Burckhardt gesagt hat, damals sei «die Bildung allen eigen» gewesen, «und damit das Interesse für Kunst, Poesie usw.», so ist das meines Erachtens nicht richtig, trifft jedenfalls nicht das Wesentliche. Es muss heissen, das existenzielle Verhaftetsein in diesen Fragen sei allen eigen gewesen. Deswegen haben sie sich nicht nur für «Kunst, Poesie usw.» interessiert, sondern sie haben sie gebraucht. Man kann das auf den verschiedensten Feldern zeigen, in Tragödie wie Geschichtsschreibung, Sophistik, Wissenschaft, Medizin zum Beispiel, bildender Kunst und Architektur.

Kurz, was hier zu beobachten ist, ist vor allem eine Bürgerschaft, die unter grössten Erfolgen sich aufs Schnellste veränderte und es mit all den Problemen aufnahm, die sich daraus für die Basis ihres Denkens, Urteilens, ja wohl auch Vorstellens und Fühlens ergaben. Sehr offen, sehr frei, sehr abenteuerlich. Und unter - zum Teil grausamer, harter, herrschsüchtiger, zum Teil aber auch faszinierender - Einbeziehung der gesamten griechischen Welt, denn überall dort hatte man in irgendeiner Weise an dem Prozess teil.

Es war, ganz im Sinne Max Webers, ein Prozess der Rationalisierung, welcher sich damals abspielte, der dadurch ausgezeichnet war, dass er bis in die Voraussetzungen, bis in die Grundfragen des Seins hineinreichte, freilich vom Politischen her, kaum im Wirtschaftlichen. Eben damit aber aus Freiheit, Selbstbestimmung, lebhaftester Verantwortung und im Ansporn der Gewissheit, die Welt im Grossen und im Kleinen verstehen zu können; samt der Einsicht schliesslich, nichts zu wissen, und dem Neuanfang eines noch tieferen Fragens.

Auch wenn man mit Sklaven wirtschaftete, die Frauen aus der Öffentlichkeit heraushielt (ja ihnen zum Teil geradezu die Ratio absprach), auch wenn die Demokratie und die Hybris der Macht zeitweilig über alle Stränge schlugen - was übrigens auch öffentlich diskutiert und kritisiert wurde, in der Tragödie, im Melier-Dialog des Thukydides und anderswo, nur leider ohne Erfolg; freilich mit der Konsequenz, dass Platons Philosophie davon ihre erste grosse Motivation erhielt - also: trotz all dem: Ist das nicht schon Europa? Insbesondere durch die offene, radikale Art sowohl des Handelns wie des Beobachtens, des Entscheidens und damit des Diskutierens und Infragestellens? Was schliesslich wichtiger, vorwärts treibender, beunruhigender ist als einige Mängel, Verbrechen, falsche Thesen, die damit verbunden waren.

Man musste jetzt mit der enormen Ausbreitung, Verfeinerung, Bereicherung griechischer Kultur im Hellenismus wie mit den grossen Anteilen fortfahren, die Rom an der Geschichte hatte, nicht nur durch sein Recht, seine Assimilationskraft, seinen Bürgerbegriff, sondern auch dadurch, dass es Griechisches mit Eigenem aufs Furchtbarste durchdrang. Doch reicht hier der Raum dafür so wenig wie dazu, die Rolle der Christianisierung des Römischen Reichs mit ihren so ungemein vielfältigen, zum Teil weit sich verästelnden Nachwirkungen zu charakterisieren.

VORGABEN

Wie nun steht es mit der Antike angesichts der Frage nach dem europäischen Sonderweg? Eines ist wohl unübersehbar. Als Vorgeschichte Europas ist die Antike jedenfalls nicht wegzudenken. Schwieriger ist zu bestimmen, ob sie nicht geradezu conditio sine qua non Europas war.

Hier fragt sich etwa, ob das, was Christentum, römisches Recht, antike Philosophie in Europa ermöglicht und in Gang gesetzt haben, auch ohne diese Vorgaben hätte verwirklicht werden können - in der Praxis der Kanzleien, des mittelalterlichen und neuzeitlichen Bürgertums, der intellektuellen Kämpfe, des Aufbaus des Staates; sodann in der bürgerlichen Öffentlichkeit, in der Vorgeschichte etwa von Rechtsstaat und Demokratie, einer Demokratie in grossen Räumen, wie andere Kulturen sie nicht hatten hervorbringen können.

Hätte man dies alles, je nach den Situationen, in denen man sich befand, ohne solche Vorgaben, dank eigenem Verstand, dank günstigen Kommunikationsbedingungen mit gleichen oder ähnlichen Ergebnissen erarbeiten können? Oder wäre man in viele dieser Situationen ohne jene Vorgaben eben gar nicht erst gelangt?

Immerhin haben breite Schichten, hat ein Bürgertum es alles andere als leicht, die Basis für die eigene Macht im Staat zu schaffen, dazu, den Staat gleichsam zu unterfangen. Dass sich Usurpatoren finden, um eine Monarchie zu begeistern, liegt offensichtlich viel näher und geht viel schneller, als dass eine Bürgerschaft sich formiert. Und wenn das vielleicht in Städten noch geschehen kann - aber was wären das für Städte ohne die antiken Vorgaben gewesen? Wie geht das in grösseren Räumen? Und können dort solche Prozesse der Bildung, der Kenntnisgewinnung, der nachhaltigen Heranbildung eines gemeinsamen Willens, einer «horizontalen Solidarität» und schliesslich der Demokratie überhaupt stattfinden?

Diesen Fragen gegenüber haben wir es heute allerdings nicht ganz leicht, weil wir über mehr oder weniger alles irgend als möglich erscheinende Wissen, über Formen, Inhalte jeder Art zu verfügen meinen. Wie schwer dieses Wissen aber erarbeitet worden ist, über viele Jahrhunderte hin - wer kann sich das überhaupt vorstellen? Vermutlich müssen wir die Grenzen unseres Verstehens überschreiten. Dann erscheint, so möchte ich behaupten, die Antike doch für das Abendland als unerlässliche Vorbedingung.

Begann der europäische Sonderweg also doch schon bei den Griechen? So dass die Antike gleichsam die Frühgeschichte Europas darstellt? Paul Veyne hat die Frage, ob Rom die Grundlage des modernen Westeuropa sei, von sich gewiesen. Es sei nicht Aufgabe des Historikers, «Parvenüs in ihren genealogischen Illusionen zu bestätigen». Das ist wohl richtig, nur ist es eben die Frage, ob Europa ein Parvenü war - und ist. Letztlich freilich muss unsere Zeit (in Europa) selbst entscheiden, ob sie die Antike als ihre Frühgeschichte annimmt. Historiker können nur sagen, ob es wissenschaftlich möglich ist. Und das kann man, glaube ich, mit besten Gründen, behaupten.

Dass die antike Zivilisation in der Spätantike unterging, ist kein Einwand. Denn es kennzeichnet gerade die europäische Geschichte, dass dort immer wieder neu angefangen worden ist. Seit der Antike ist europäische Kultur gewagt, bleiben immer Optionen offen, werden Bestrebungen, in deren Folge das Ganze aufs Spiel gesetzt wird, letztlich nicht gehemmt. Wobei die Konkurrenz ein Übriges tut. Kultur ist ja nicht ein Haus, dessen Fundamente einmal gelegt werden, auf dass dann immer weiter darauf aufgebaut werde. Wie sie ja auch keine Garantie gegen Barbarei darstellt.

In diesem Sinne ist der Neuansatz der Griechen und Römer - und dann auch der Germanen - mit dem Christentum (im Westreich) etwas durchaus Europäisches, weit über die religiöse Sphäre hinaus auf das Politische einwirkend - ebenso wie die Wiederentdeckung der Antike später und unendlich viel anderes.

Möglicherweise stehen wir heute wieder - und trotz all unserem Wissen - vor der Notwendigkeit eines radikalen Neuansatzes, vor dem Ende des Christentums, vor dem Ende des Staates, der Demokratie, des Anspruchs zu begreifen, was in der Welt vorgeht. In der Fähigkeit aber zu Neuanfängen - könnte es sein, dass darin gerade die Eigenart europäischer Kultur liegt, seit den Griechen? In den sogenannten «Kulturgütern» jedenfalls kann sie kaum liegen. Das ist, mit Nietzsche zu sprechen, etwas für Philister.

Freiheit und Leben sind, nach Goethe, nichts, was besessen, sondern etwas, was täglich erobert werden muss. Und so steht es mit Kultur auch. Sie kann etwas Grossartiges sein, etwas Ungeheuerliches auch. Aber sie kann auch nur zum Schein vorhanden sein. Und sie hat ihre Grenzen. Sie läuft unter Umständen auch aus dem Ruder, wie die lange Reihe europäischer (und amerikanischer) Untaten zeigt, von der griechischen Antike über Cäsars Kampagnen, die Kreuzzüge bis Auschwitz, Hiroshima und vor allem Nagasaki.

 

 


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