Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 2. Februar 2002, Nr. 27, Seite 81

 

Griechisch-punische Kulturbegegnung im antiken Sizilien

Grossräumige archäologische Stadtgrabung am Beispiel der Kolonie Selinunt

Von Annalis Leibundgut

Die Grabung in Selinunt gilt sowohl in Bezug auf Methoden als auch im Hinblick auf neueste Forschungskonzepte als Musterbeispiel moderner archäologischer Stadtforschung. Sie ist eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte Grossgrabung des Deutschen Archäologischen Institutes Rom unter der Leitung von Dieter Mertens in Zusammenarbeit mit der Soprintendenz Trapani. Die Probleme nach der Alterität zweier wesensfremder Kulturen, Griechen - Punier, stehen ebenso im Zentrum wie die Fragen nach der urbanen Entwicklung der Kolonie, die nach neuesten Erkenntnissen von Anfang an nach Regelplan konzipiert und ausgeführt worden ist.

Tempel und Theater, Festungsbauten und Nekropolen besassen bis vor wenigen Jahrzehnten in der mittelmeerischen Grabungstätigkeit der klassischen Archäologen eine absolute Vorrangstellung, während die ganzheitliche Erforschung der Städte, deren Umfeld und die soziale Infrastruktur weitgehend vernachlässigt worden sind. Seit geraumer Zeit nun treten, bedingt durch neuere Forschungsschwerpunkte im Zusammenhang mit modernen urbanistischen Fragestellungen, Probleme der kulturellen Gesamtheit der Städte in den Vordergrund.

Die 628 v. Chr. gegründete griechische Kolonie Selinunt bietet Gelegenheit, ganzheitlich-städtebauliche Untersuchungen von den Gründung der Stadt bis zu ihrer endgültigen Auflassung zu machen, da das Stadtterrain nach der Einnahme durch die Römer (250 v. Chr.) nie mehr systematisch überbaut worden ist. Konnte noch vor einigen Jahrzehnten festgestellt werden, dass man fast nichts über die berühmte archaisch-klassische Stadt, wenig über Nekropolen und die Akropolis wisse, hat sich der Kenntnisstand in der Zwischenzeit verbessert. Aber immer noch fehlten bis vor kurzem übergreifende Untersuchungen zur Stadtgeschichte, zur Grösse und Form der archaischen Siedlung. Erst seitdem sich auf dem Hintergrund zeitgenössischer Städteforschung neueste archäologische Forschungstendenzen etabliert hatten, interessieren sowohl die nichtgriechisch-punischen Elemente Selinunts im Zusammenhang mit den heute relevanten Problemen der modernen Kulturalterität sowie die Quartiere der verschiedenen Schichten in Bezug auf soziale Implikation innerhalb eines gesamten Stadtgefüges. Von grosser Bedeutung nicht nur für Selinunt, sondern auch stellvertretend für andere Städte ist die Erforschung der frühesten Kolonialstädte und ihrer Interaktionen mit den gewaltigen Tempelanlagen inner- und ausserhalb der Stadtgrenzen. Die auf lange Sicht geplante Grabung von Selinunt sieht vor, die bisher getrennt gesehenen sakralen und säkularen Monumente in ihrer Gesamtheit zu betrachten und den monumentalen Tempelanlagen die in ihrer historischen Entwicklung zu erforschende Stadt als gleichwertigen Komplex gegenüberzustellen und beides als Einheit zu verstehen.

INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG

Dank Kombination verschiedener neuer Methoden, vor allem des geophysikalischen Prospektionsverfahrens und der Stadtmauerforschung, gelingt es der archäologischen Stadtforschung zunehmend, grossräumige Strassennetze und Platzsysteme zu kartieren. Die dadurch gewonnene Etablierung des ursprünglichen Strassennetzes kann mittels konventioneller Ausgrabungstechnik an neuralgisch wichtigen Stellen im Stadtgefüge bestätigt werden. Systematische Erfassung der Mauern und Tore ist Voraussetzung für die Kenntnis der Ausdehnungen einer Stadt in verschiedenen historischen Phasen, aber auch für ihre Beziehungen zum Umfeld. Beide Methoden, d. h. die bis anhin in der Archäologie meist nur punktuell vorgenommene Stadtmauerforschung sowie die geophysikalische Perspektion, sind in Selinunt nun erstmals in grossem Umfang angewandt worden: Dadurch bietet Selinunt als eine der ersten Siedlungen innerhalb der gesamten griechischen Städteforschung die besten Voraussetzungen für die weitflächige synchrone und diachrone Erforschung kultureller Grossräume.

Hier wurde der Verlauf der Stadtmauern durch den Grabungsleiter, Dieter Mertens, vor wenigen Jahren schon aufgearbeitet. Anhand von Luftfotos und Beobachtungen von Vegetationsdichte sowie mit Hilfe von Tiefschnitten konnte Mertens den Verlauf der archaischen Mauern unter einer Schwemmschicht aufdecken. Die bewährten archäologischen Methoden, vor allem die Erforschung der Keramik, der Terrakotten, Bronzen und der Steindenkmäler unter Berücksichtigung ihres Fundkontextes, sowie die Aufnahme architektonischer Elemente und bautechnische Untersuchungen durch Architekten stehen nach wie vor im Vordergrund. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Biologen, Geologen und Anthropologen, mit Historikern, Epigraphikern und Restauratoren ist heute Voraussetzung für eine Siedlungserforschung wie die Selinunt-Grabung.

Wie über alle Kolonien in Grossgriechenland sind wir auch über Selinunt durch antike griechische Historiker informiert. Die wichtigsten Quellen für das Gründungsdatum sind der Historiker Thukydides und der aus Sizilien stammende Diodor, der uns nicht nur die Eckdaten, sondern auch die Hauptereignisse der Geschichte von Selinunt überliefert. Selinunt wurde als Tochterkolonie einer der ältesten sizilischen Koloniegründungen, Megara Hyblaea, 100 Jahre nach deren Gründung (laut Thukydides 628/27 v. Chr., laut Diodor 650 v. Chr.) im Südwesten Siziliens angelegt. 480 nimmt Selinunt als einzige griechische Stadt auf Seiten der Karthager an der Schlacht von Himera teil. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert gehört die Stadt durch ihre Agrarproduktion und ihren ausgedehnten See- und Binnenhandel zu den reichsten selbständigen Städten Siziliens. 409 v. Chr. wird die Stadt nach Diodor im Karthagersturm fast völlig zerstört. Kurz darauf legt der Syrakuser Hermokrates auf der Akropolis eine neue Festung an, um den Ort als Ausgangspunkt für seine Übergriffe auf karthagische Gebiete zu benutzen. Um 405 erfolgt ein Waffenstillstand: Die Stadt wird Karthago steuerpflichtig. 40 Jahre später gerät der Platz kurzfristig in die Hände des Syrakusers Dionysios. Es folgt eine Zeit der relativen Ruhe, in der sich die punische Siedlung ausdehnt. 307 stürmt der syrakusische Tyrann Agathokles die Stadt, baut die Akropolisfestung aus. Kurz darauf gerät Selinunt erneut in punische Hände. Nach 150 Jahren ständigen Wechsels zwischen Griechen und Puniern wird die Stadt 250 v. Chr. von den Römern eingenommen und nie wieder aufgebaut.

DIE FRÜHE STADTANLAGE

Selinunt breitet sich auf einem flachen Hügel aus, der im Süden gegen das Meer hin steil abfällt und im Westen von zwei Flüsschen eingerahmt wird. Auf dem Plateau im Osten liegt der extraurbane grosse Tempelbezirk mit drei mächtigen Tempelruinen archaischer bis klassischer Zeit, zwei davon neu aufgebaut. Im Westen, jenseits der Stadtgrenzen, befinden sich weitere Heiligtümer. Auf der sogenannten Akropolis ein dritter gewaltiger Tempelkomplex mit zum Teil wieder aufgestellten Säulenstellungen. Diese grosse Zahl an dorischen Tempeln spricht sowohl für die griechische Präsenz und Selbstdarstellung in fremder Umgebung als auch für den Reichtum Selinunts, von dem schon Thukydides berichtet. Die rund 100 Hektaren grosse Stadt selbst gliedert sich in die sogenannte Akropolis im Süden und den Stadtteil auf dem Plateau Manuzza.

Durch Flächenausgrabungen auf der Agora (Marktplatz) und in den sie umgebenden Insulae (Baublocks) suchen die Ausgräber die Stadtgeschichte an einem zentralen Punkte ihrer Entwicklung zu erkennen. In den letzten Grabungsperioden gelang es, den Stadtplan grossflächig zu erfassen. Dabei konnte auch das Verhältnis der Stadtmauern zum Stadtplan geklärt werden: Die beiden wichtigsten Tore im Osten fallen mit den Haupt-Strassenzügen, welche in Ost-West-Richtung auf die Agora zulaufen, zusammen und führen im Osten zu den gewaltigen Tempelanlagen ausserhalb der Tore. Ein Doppeltor mit je zwei Flügeln konnte schon im Zusammenhang mit der Mauerforschung rekonstruiert und ins frühe 6. Jahrhundert v. Chr. datiert werden. Es ist das grösste bekannte archaische Stadttor in der griechischen Welt und das prunkvollste, dem neben der verteidigungspolitischen auch eine sakrale Funktion zukommt. Die Agora scheint unbebaut gewesen zu sein, wie die geomagnetischen Untersuchungen ergaben, doch werden die geplanten Grabungen an der nördlichen Agora-Grenze neue Aufschlüsse vermitteln. Durch dieses rechtwinklige Strassensystem mit seinen Insulae und den Verbindungen der Hauptarterien zu allen wichtigen Stadtheiligtümern zeigt sich ein auf Monumentalität zielendes Gesamtbild, welches öffentliche und private, sakrale und säkulare Bereiche miteinander in Einklang bringt.

Von epochaler Bedeutung sind die archäologischen und historischen Erkenntnisse, welche aus dem regelmässigen Stadtplan der Strassen und Insulae im Osten der Agora gezogen werden konnten. Die archäologischen Fundkomplexe und stratigraphischen Beobachtungen anhand gezielter Flächengrabungen ergaben in den letzten Grabungskampagnen die Gewissheit, dass das Regelsystem gleichzeitig mit der archaischen Befestigungsmauer schon in der zweiten Siedlergeneration im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. konzipiert und dass dieses System grosszügiger und weiträumiger als in der Mutterkolonie Megara Hyblaea ausgeführt worden ist, auch wenn es sich an dem der Mutterstadt orientiert. Damit konnte der Beweis erbracht werden, dass Selinunt in einem Zuge nach einem Regelplan angelegt worden ist, ein bisher für griechische Kolonien unbekanntes Phänomen.

Die im Osten der Agora gelegene Insula ist in ihrer Länge von rund 160 Metern zwischen den Ost-West-Hauptstrassen ausgegraben worden, wobei festzustellen war, dass die Fläche der Insulaparzelle in regelmässige quadratische, gleich grosse Hausstellen (Oikopeda) mit einer Seitenlänge von rund 15 Metern eingeteilt wurde, welche die Stadt den Kolonisten zugewiesen hatte. Ein noch ungeklärter Befund, der seine einzigen Parallelen in der Mutterkolonie Megara Hyblaea hat, beschäftigt die Ausgräber: In den Ecken der ältesten Hausstellen, von deren Mauern überlagert, befinden sich kreisrunde, in mehreren Schichten gefügte Steinsetzungen von rund 2,5 Metern Durchmesser. Mertens interpretiert die Steinsetzungen vorläufig als Opferstellen im Zusammenhang mit der Zuweisung der Parzellen an die Kolonisten. Über die frühesten Bewohner nach der Koloniegründung im letzten Viertel des 7. Jahrhunderts ist bis jetzt wenig bekannt.

Ungewöhnlich und bisher an keiner archaischen Agora in dieser Eindeutigkeit festzustellen sind die über mehrere Oikopeda laufenden Räumlichkeiten, welche alle zur Agora hin geöffnet sind und als Läden gedeutet werden müssen. Aus stratigraphischen Gründen gehören die bisher ausgegrabenen 16 Läden zur ersten Regel-Bauphase, zwischen 600 und 590 v. Chr. Sie bilden eine bauliche Einheit mit den östlich dahinter stehenden Doppelhäusern, die zwei Drittel der Hausblöcke einnehmen, während die Läden das agoraseitige Drittel okkupieren. Um die Mitte des 6. Jh. wird die Ladenzeile durch prunkvollere Fassaden mit zum Teil vorspringenden Mauern gegen die Agora hin erweitert: eine Tendenz zur Monumentalisierung, die auch im Hausbau verfolgt werden kann.

DAS PUNISCHE SELINUNT

Die Zerstörung durch Hannibal im Jahre 409 v. Chr. hat tiefe Spuren in der Stadt hinterlassen. Historisch erklärt sich diese Zerstörung durch die Punier, die bis zu diesem Zeitpunkt als wertvolle Handelspartner von Selinunt fungierten und keine nennenswerte Bedrohung darstellten, nur vordergründig aus einem Streit zwischen Selinunt und dem nahe gelegenen punisch orientierten Segesta. Die Forschung ist bis jetzt davon ausgegangen, dass die alte griechische Kolonialstadt auf der Manuzza im Karthagersturm vernichtet, eingeebnet und nicht mehr neu besiedelt wurde. Die junge punische Siedlung hätte sich, so die Forschungsmeinung, auf die Südstadt südlich der neuen grossen Festungsanlagen beschränkt. Diese vor 15 Jahren durch Mertens erforschten und heute noch gut sichtbaren späten Festungsanlagen wurden von Hermokrates, später von Agathokles aus den Trümmern der von Karthago 409 v. Chr. zerstörten Koloniestadt und den Resten der archaischen Stadtmauern kurzfristig zur Sicherung der Akropolis gebaut. Diese Festungsanlagen gehören zu den gewaltigsten der Insel.

Durch die jüngsten Grabungen östlich der Agora ergeben sich überraschende Resultate für die punische Stadtgeschichte. Mertens und sein Team konnten in der Ladenzeile östlich der Agora Reste eines Hauses aus dem 3. Jh. aufdecken, das genau der für punische Häuser charakteristischen Anlage entspricht. Ähnliche Bauten sind kürzlich in der Insula südlich der Agora kartiert worden. Sie gleichen in ihrem punischen Habitus den schon länger bekannten Häusern aus der punischen Neubesiedlung der Akropolis und haben ihre nächsten Parallelen im punischen Kerkuan in Tunesien. Dadurch wurde erwiesen, dass die neue punische Besiedlung weit grössere Ausmasse angenommen hatte als erwartet. Sie übertrifft bei weitem die punische Siedlung Kerkuan. Die Neusiedler scheinen, soweit die bisherigen Grabungen diesen Schluss zulassen, das konstituierende Strassenelement des Manuzza-Plateaus nicht berücksichtigt zu haben, indem sie die West-Ost-Arterie überbauten.

Im Rückzugsgebiet innerhalb der späten Festungsmauern auf der Akropolis haben sich punische Häuser mit aufsteigendem Mauerwerk erhalten. Hier blieb das zugrunde liegende griechische Strassensystem grösstenteils bindend. Die Punier benützten für den Bau ihrer Häuser nicht nur die Fundamente, sondern teilweise auch die Mauern griechischer Vorgängerbauten. Es scheint, dass die Neubesiedlung erst nach der Mitte des 4. Jh. einsetzte und dass vorwiegend punische Siedler zugezogen sind. Nordöstlich des archaischen Tempels C fanden sich zahlreiche regelmässig angelegte Bauwerke, die als Läden zu identifizieren sind. Sie sind in ihrer klaren Unterteilung durch Verkaufsraum, dahinter liegenden Lagerraum und anschliessende kleine Kammer mit häufig noch erhaltener Treppe ins private Obergeschoss charakteristisch für punische Ladenkonstruktionen.

Trotz diesen Erkenntnissen bleiben die brennenden Fragen nach den urbanen Strukturen punischer Besiedlung und nach ihren Entwicklungen noch offen. Die nächsten Grabungskampagnen sollen diese Probleme gezielter angehen. Fragen nach den Auswirkungen der Kulturbegegnung zweier wesensfremder Gesellschaften, die immer mehr ins Zentrum der modernen Forschung geraten, könnten in Selinunt zu bahnbrechenden Ergebnissen führen. Hier förderten schon zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. die positiven Beziehungen zwischen Phöniziern und den griechischen Erstsiedlern das Wachstum und den Reichtum der neuen Kolonie, in welcher die Phönizier einen Garanten des Handels zwischen West und Ost erkannten. Die wechselnden Beziehungen lassen sich nicht nur im Stadtbild, sondern auch in der übrigen materiellen Hinterlassenschaft erkennen. Besonders aufschlussreich sind die neuesten Erkenntnisse über den Warenaustausch in Selinunt. Aus zwei im Gebiet der Agora gehobenen Fundensembles von Transportamphoren, in denen vorwiegend Wein und Öl importiert wurden, können folgende Schlüsse gezogen werden: Der ältere Befund aus der Zeit um 540 v. Chr. weist einen hohen Anteil an Amphoren aus dem gesamtgriechischen Raum auf, wobei das Mutterland mit 41 Prozent den höchsten Anteil hat. Dies ändert sich um 400 v. Chr. grundsätzlich: Fehlten im archaischen Befund punische Amphoren, wächst deren Anteil in dieser Zeit auf rund 33 Prozent, während die griechischen Importe gewaltig zurückgehen. Ähnliche Ergebnisse dürften auch aus der Gegenüberstellung von Feinkeramik und lokaler Ware resultieren. Selinunt könnte sich in Zukunft als Paradebeispiel kultureller Akzeptanz und Renitenz im Wechsel zwischen griechischer und punischer Bevölkerung abzeichnen.

Literatur: D. Mertens: Die Mauern von Selinunt. Röm. Mitteilungen 96, 1989, 87 ff. D. Mertens: Griechen und Punier in Selinunt. Röm. Mitteilungen 104, 1997, 301 ff. D. Mertens: Verso l'Agora di Selinunte, in: La Colonisation grecque en Méditerranée occidentale, Actes . . . G. Vallet (1999), 185 ff.

 

 


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