Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 15. Mai 2002, Nr. 110, Seite 62

 

Ein weiteres Werk des Dipylon-Meisters

Skulpturenfund bereichert das Bild der archaischen Plastik

BildBei Ausgrabungen im Bereich des ehemaligen Töpferviertels Kerameikos in Athen sind, wie bereits kurz gemeldet, mehrere antike Skulpturen- und Architekturfragmente der archaischen Epoche entdeckt worden (NZZ 11./12. 5. 02). Letzte Woche hat das Deutsche Archäologische Institut in Athen, das die Ausgrabung durchführte, die Funde der Öffentlichkeit vorgestellt. Als bedeutendstes Stück gilt eine monumentale Jünglingsfigur, die von den Ausgräbern auf die Zeit um 600 v. Chr. datiert wird. Stilvergleiche mit einem 1916 beim Nordtor des Dipylon in Athen, nahe dem jetzigen Fundort, entdeckten Kopf, der sich im Athener Nationalmuseum befindet, und einer nahezu vollständig erhaltenen Jünglings-Skulptur, die 1932 vom Metropolitan Museum New York erworben wurde, legen es für die Archäologen nahe, sie dem nicht namentlich bekannten, als Dipylon-Meister bezeichneten Bildhauer zuzuschreiben, dessen Werk am Anfang der attischen Marmorbildhauerei steht.

Kopf und Oberkörper der überlebensgrossen Plastik sind fast vollständig erhalten; die Beine, der linke Arm und Teile der rechten Hand sind bisher nicht gefunden worden. Vor allem das Gesicht ist aber besser erhalten als bei den bisher bekannten Werken des Dipylon-Meisters, auch wenn ein Teil der Nase fehlt. Die ganze Figur dürfte etwas über zwei Meter hoch gewesen sein. Der Typ des monumentalen Jünglingsbildes, das mit dem griechischen Wort für «Jüngling» als Kouros bezeichnet wird, wurde von den attischen Bildhauern gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. wohl aus dem östlichen Mittelmeerraum übernommen, aber von Anfang an eigenständig weiterentwickelt - ein Prozess, in dem der Dipylon-Meister eine wichtige Rolle spielte. Ausgehend vom Erfassen des nackten männlichen Körpers und des Zusammenspiels seiner Teile bereitet sich in diesem Bildtyp im Lauf des 6. Jahrhunderts die Menschendarstellung der klassischen griechischen Kunst vor. Verwendet wurden die Kouroi als Weihgeschenke in Heiligtümern oder als Grabstatuen - zumindest so lange, bis ein Gesetz im Zusammenhang mit den Reformen des Kleisthenes am Ende des 6. Jahrhunderts übertrieben aufwendigen Grabluxus verbot. Mit den neu entdeckten Skulpturen hat sich das Bild der archaischen attischen Plastik in wichtigen Bereichen erweitert. Die Archäologen bezeichnen den Fund deshalb als einen der wichtigsten der letzten Jahrzehnte.

Ausser dem Kouros sind bei der Ausgrabung, welche die Dokumentation des Heiligen Tors zum Ziel hatte, eine Sphinx, zwei Marmorlöwen, ein Fragment einer ionischen Marmorsäule mit Kapitell sowie ein Fragment eines dorischen Kapitells aus Kalkstein gefunden worden. Alle Funde lagen in einer Reihe unter einer Strasse, die nach der Schlacht bei Salamis 480 v. Chr. im Zusammenhang mit der von Themistokles veranlassten Befestigungsmauer gebaut worden war. Die Sphinx aus Marmor, die um 560 v. Chr. entstanden sein dürfte, ist das seitenverkehrte Gegenstück zu einer Skulptur, die 1907 an der Westseite des Heiligen Tors gefunden wurde und die heute ebenfalls im Athener Nationalmuseum verwahrt wird. Von den beiden Löwen ist der eine stark zerstört, der andere hervorragend erhalten. Sie verdienen besonderes Interesse, weil bisher lediglich vereinzelte Fragmente von frühen attischen Grablöwen bekannt waren. Auf Grund der Dekorationsmotive werden sie in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. datiert.

So wichtig die neuen Funde für das Bild der archaischen attischen Plastik sind, sie stellen der Forschung auch eine Reihe von Problemen. So ist unbekannt, in welchen Kontext die Skulpturen gehören. Dass sie aus einem Grabbezirk stammen, dürfte feststehen. Ob sie aber aus demselben Grabbezirk kommen und wo und wie sie aufgestellt waren, ist noch unklar. Da der Kopf der neu entdeckten Figur grosse Ähnlichkeit mit dem 1916 entdeckten Dipylon-Kopf aufweist, stellt sich die Frage, ob die beiden Figuren zusammengehörten. Noch ungedeutet ist auch die Funktion der Sphingen - sie könnten laut den Archäologen als Aufsatz einer Stele oder als Teil des Dachaufbaus eines Grabmonuments gedient haben.

Thomas Ribi

 

 


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