Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Forschung und Technik, 6. März 2002, Nr. 54, Seite 72

 

Kindsmord in römischer Zeit

Keine bevorzugte Tötung von Mädchen

Das Beseitigen unerwünschten Nachwuchses ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Für die römische Zeit ging die Forschung bisher davon aus, dass in erster Linie weibliche Säuglinge getötet wurden. Neuere Untersuchungen an Funden aus Grossbritannien stellen diese Hypothese nun in Frage.

Zu allen Zeiten und in allen Schichten war das Ausmerzen von unwillkommenem Nachwuchs eine weitherum praktizierte Form der Geburtenregelung. Die Motive sind - besonders für die schriftlosen Kulturen - unklar. Für die römische Zeit hingegen, wo sowohl Abtreibung, Kindsaussetzung wie Infantizid in schriftlichen Quellen erwähnt sind, werden zahlreiche Gründe genannt. Einer davon ist das unerwünschte Geschlecht des Kindes, ohne dass aus den Quellen hervorgeht, ob damit das männliche oder das weibliche gemeint sei. Im Gegensatz zu heute konnte in diesem Fall die Tötung allerdings erst nach der Geburt erfolgen, und die Toten erhielten nicht selten einen Platz im Friedhof.

Auch archäologisch lässt sich dieses Phänomen nachweisen: In einigen römerzeitlichen Friedhöfen Grossbritanniens konnte für Erwachsene ein Geschlechterverhältnis von fast 1,5:1 zugunsten der Männer festgestellt werden. Dieses Verhältnis entspricht nicht einer normalen demographischen Verteilung. Als weitere Besonderheit fiel die unnatürlich hohe Anzahl der Neugeborenen im Vergleich etwa zu mittelalterlichen Friedhöfen auf. Die Forscher nahmen deshalb an, dass hier tatsächlich Kindstötung praktiziert wurde, und sie vermuteten, es müsse sich bei den unerwünschten Säuglingen um Mädchen handeln.

Der Beweis für diese Hypothese war jedoch bis anhin nicht zu erbringen. Während das Geschlecht von Skeletten jugendlicher oder erwachsener Personen auf Grund morphologischer Merkmale in der Regel problemlos bestimmt werden kann, ist das bei Säuglingen, Neugeborenen und Föten nicht möglich. Ihr Knochenbau ist dazu noch zu wenig ausdifferenziert. Hier helfen nur neue humangenetische Methoden weiter. Nicht allein modernes Gewebe, sondern auch archäologische Materialien können genetische Informationen enthalten. Allerdings ist durch die lange Lagerung im Boden die DNA oft zerstört oder fragmentiert; übrig bleibt die sogenannte aDNA (ancient DNA). Sie muss zur Untersuchung in einem aufwendigen Verfahren extrahiert und vermehrt werden.

Simon Mays vom Ancient Monuments Laboratory in Portsmouth und Marina Faerman vom Laboratory of Biological Anthropology and Ancient DNA in Jerusalem haben die Säuglingsskelette zweier römerzeitlicher Friedhöfe - Ancaster und Thistleton in England - nun untersucht. Bei beiden Friedhöfen hatten die Archäologen auf Grund der demographischen Daten Kindstötung vermutet. Unter strengsten Laborbedingungen wurde von 31 Säuglingen Knochenpulver für die aDNA-Analyse entnommen und untersucht. Für 13 Individuen lieferte das Verfahren ein eindeutiges Geschlecht. Wider Erwarten zeigten sich aber die männlichen Säuglinge mit 9 Individuen in der Überzahl, und zwar im Verhältnis von über 2:1. Auf Grund der geringen Anzahl von Untersuchungen bleibt dieses Resultat allerdings statistisch nicht signifikant. Es spricht aber klar gegen die These einer vermuteten einseitigen Eliminierung weiblichen Nachwuchses. Zusammen mit einer bereits früher vorgenommenen aDNA-Geschlechtsbestimmung römerzeitlicher Säuglinge in Sussex, England, steigt die Anzahl männlicher Kleinkinder sogar auf 12, diejenige der weiblichen auf nur 5, erreicht aber noch immer nicht ein statistisch signifikantes Niveau; ein Trend mindestens scheint sich abzuzeichnen.

Auf Grund dieser Untersuchungen wird es in Zukunft nicht mehr möglich sein, in römerzeitlichem Kontext von unerwünschten Mädchen zu sprechen. Nach dem Grund für die Beseitigung neugeborener Knaben muss nun gesucht werden. Sie starben - wie die Mädchen auch - im Alter von 35 bis 40 Wochen, also sehr bald nach der Geburt.

Den in der Studie erfolgreich durchgeführten Geschlechtsbestimmungen war nur in 42 Prozent der Fälle Erfolg beschieden. Diese enttäuschende Erfolgsquote wird von den Forschern auf die für aDNA-Analysen sehr ungünstigen Erhaltungsbedingungen zurückgeführt. Unter besseren Voraussetzungen sind Geschlechtsbestimmungen an archäologischem Skelettmaterial in bis zu 85 Prozent der Fälle erfolgreich. Damit erweist sich die Humangenetik auch für die Archäologie als vielversprechende Analysenmethode.

Geneviève Lüscher

Quelle: Journal of Arch. Science 28, 555-559 (2001).

 

 


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