Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Tourismus, 14. März 2002, Nr. 61, Seite 59

 

Pisa und sein im Schwemmland versunkenes kulturelles Erbe

Zur Piazza dei Miracoli gesellt sich der noch zu entdeckende «Hafen der Wunder»

Viel fragen kann nicht schaden. Nur sind es nicht unbedingt Standardfragen, die zu tieferen Einsichten verhelfen. So ist die in Hinblick auf Pisa am häufigsten gestellte Frage: «Warum ist der Turm von Pisa schief?», schnell beantwortet, wenig ergiebig und im Prinzip wie der im Quattrocento fertig gestellte, weiss-marmorne Campanile pendente auf Sand gebaut. Die Geschichte der toskanischen Stadt am Arno rückt ein wenig näher, wenn man nachhakt, was die Pisaner eigentlich veranlasst hat, ihre heute weltberühmte Piazza dei Miracoli mit Dom, Baptisterium und Glockenturm ausserhalb der Stadtmauern entstehen zu lassen.

Und schon hat man einen hervorstechenden Grundzug der stolzen Pisani des 11. und 12. Jahrhunderts im Visier! Die Cittadini der nach Genua und Venedig drittmächtigsten Seerepublik verfügten über eine gehörige Portion Optimismus. Beflügelt vom Erfolg einer siegreich geschlagenen Schlacht (Palermo, 1063), entwickelten die Stadtväter den Plan, ausserhalb der bewohnten Quartiere einen Platz mit imposanten Bauwerken anzulegen, um der prognostizierten urbanen Ausdehnung Rechnung zu tragen. Man ging davon aus, dass sich Pisa zweifellos stetig vergrössern würde, und sah in dem neuen Domplatz das künftige Zentrum der aufstrebenden Handelsstadt. Die aus urbanistischer Sicht nicht verfehlte zukunftsorientierte Stadtplanung erwies sich schon bald als Makulatur, da die Blütezeit Pisas mit der Niederlage gegen den Erzrivalen Genua Ende des 13. Jahrhunderts ein unerwartet schnelles Ende fand. Die grandiosen Bauwerke wurden im Laufe der Jahrhunderte zwar fertig gestellt; doch sie behielten ihre Position ante portas, so dass das bauliche Ensemble auf dem grünen Rasen bis heute vom innerstädtischen Leben, nicht aber vom touristischen Parcours abgeschnitten ist. Ebenso wie der «Platz der Wunder» befindet sich ein weiteres Highlight des kulturellen Erbes Pisas ausserhalb der Stadtmauern: der «Hafen der Wunder» mit den 1998 entdeckten Navi Romane.

Schiffe im Sand

Warum steckte der sensationelle Fund aus (bislang) sechzehn antiken Schiffen, auf welche Bauarbeiter vor vier Jahren im Pisaner Stadtteil San Rossore stiessen, fünf Meter tief im Sand, und zwar an einer Stelle, an der gar kein Wasser fliesst? Handelt es sich hier um einen einmaligen Sammelplatz abgewrackter Frachtschiffe aus römischer Zeit? Gegen diese Vermutung spricht die Tatsache, dass die antiken Schiffe zum Teil mit vollständig erhaltenem Frachtgut beladen waren. In den Barken befanden sich mit Öl, Wein und Oliven gefüllte Amphoren und ebenso enghalsige Vasen, die Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche und Nüsse enthielten. Ans Tageslicht kamen jahrhundertealte Gefässe, die mit dem feinen Sanidin-Augit-Sand Kampaniens (ein Rohstoff für die Töpfereien Pisas) gefüllt waren. Fundstücke aus organischem Material wie Taue, Rollen, Stagblöcke, Körbe, hölzerne Schuhsohlen, Kämme, Holzteller, Öllampen sowie Reste einer Lederjacke werfen ein Licht auf das alltägliche Leben derjenigen, die sich an Bord der Schiffe befanden. Statt eines pathetisch überhöhten Idealbildes der römischen Antike zeichnen die im sandigen Grund von San Rossore entdeckten Gebrauchsgegenstände den Alltag der Seeleute nach, die im Imperium Romanum die Warenzirkulation zwischen den Hafenstädten des Mittelmeers in Schwung hielten. Dass die Pisani die von den römischen Imperatoren ausgegebene Parole «panem et circenses» beherzigten, beweisen ungewöhnliche Frachtgüter, die mit den Schiffen untergingen und jetzt wieder ausgegraben wurden: Dutzende Teilstücke rechter (warum nicht linker?) Schweineschultern und das Skelett eines Löwen, den man wahrscheinlich im Rahmen einer Volksbelustigung auf Sklaven losgelassen hätte, wenn das Schiff nicht, bedingt durch ein Unglück, unerwartet schnell im Hafenbecken versunken wäre.

Ein Fluss verschwindet von der Landkarte

Warum aber liegen die sechzehn Navi Romane, die ein Spektrum von rund acht Jahrhunderten (etwa 400 v. Chr. bis 400 n. Chr.) abdecken, auf dem Trockenen? Das Rätsel lässt sich damit erklären, dass sich in dunkler Vergangenheit auf dem unbebauten Gelände entlang der Bahnlinie, auf dem 1998 ein neues Stellwerk gebaut werden sollte, der verlandete und später zugeschüttete Stadthafen des römischen Pisae befand. Die am Fluss Auser (heute von der Landkarte verschwunden) gelegenen Anlegestellen des Porto delle Conche waren von etruskischer Zeit an bis ins 5. Jahrhundert als Umschlagplatz genutzt worden; hier wurden Waren, die übers Meer aus Spanien, Frankreich, Süditalien, Sizilien und Nordafrika an die tyrrhenische Küste gelangten, auf Barken umgeladen und zu ihrem Bestimmungsort transportiert.

Pisae, die Stadt zwischen dem Meer und den drei Flüssen Arno, Auser und Serchio, war in römischer Zeit von einem Netz Wasserstrassen durchzogen; Sumpfland umgab die Siedlung, die früher nur rund fünf Kilometer vom Meer entfernt lag. Wie heute noch in der Lagune von Venedig bildeten lange, schmale Boote das wichtigste Verkehrsmittel. Das acht Meter lange und nur ein Meter breite Boot («La Piroga»), das vollständig erhalten in Pisa/San Rossore ausgegraben wurde und zurzeit in einer Halle des Pisaner Unternehmens Teseco konserviert wird, erzählt die Geschichte der Lagunenschifffahrt im 2. Jahrhundert, als sich der Flusslauf des Arno als Hauptader eines komplexen lagunaren Systems durch das Delta schlängelte.

Im «Hafen der Wunder»

Das Frachtgut und die Bootsausrüstung der römischen Schiffe werden in den historischen Werften (Arsenali Medicei) am innerstädtischen Arnoufer ausgestellt. Die bis zu acht Meter tiefe Ausgrabungsstätte selbst befindet sich nicht weit von der Piazza dei Miracoli entfernt direkt an der Bahnstation San Rossore. Es gibt Pläne, den «Hafen der Wunder» aus etruskisch/römischer Zeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Noch liegt die Mehrzahl der freigelegten Barken auf nassem Sand; Konservatoren sind dabei, Schichten von Harz auf das Holz der Schiffe aufzubringen, Techniker kontrollieren Schläuche und Pumpen, die das ständig nach oben dringende Grundwasser absaugen, Container quellen über mit Scherben und Teilstücken einer Unmenge zerbrochener Amphoren; jedes Fragment wird katalogisiert. Den Archäologen wird die Arbeit nicht ausgehen, denn vermutlich steckt im Untergrund des unbebauten Terrains neben der Grabungsstätte noch weiteres Wundersames, vielleicht auch unmittelbar unter den Bahngleisen, die an der Fundstelle vorbeiführen - diese Vorstellung fügt sich zu einem Sinnbild: die Zeit, die unaufhaltsam und mit hohem Tempo über das im Sand versunkene kulturelle Erbe Pisas hinwegdonnert.

Pisa, die Universitätsstadt

Im Zuge der Veränderung der Fluss-Meer-Landschaft und im Schatten des von den Medici gegründeten Hafens von Livorno haben sich die Pisani nach und nach von der Seefahrt verabschiedet und sich anderen Erwerbszweigen (Glasherstellung, Mechanik, Kalkgruben) zuwenden müssen. Nur ein «Unternehmen» der mittelalterlichen Stadt hat den Wechselfällen der Geschichte erfolgreich getrotzt: die von Graf Fazio Gheradesca 1343 gegründete Universität. Der Conte rief die Hochschule ins Leben, um das Ansehen der Stadt zu stärken («per rendere più riguardevole la città»). Unter den Professoren, die an der Universität Pisa lehrten, ragt vor allem ein Wissenschafter heraus: der die Weltsicht revolutionierende Mathematiker und Astronom Galileo Galilei.

Auf rund hunderttausend Einwohner kommen heute über vierzigtausend immatrikulierte Studenten. Diese Relation bedeutet jedoch nicht, dass Pisa eine vom Lifestyle der Jugend bewegte Stadt ist. Die Studenten verjüngen zwar das Strassenbild, doch von dem kreativen Chaos des popfarbenen, energiesprühenden Graffito, das Keith Hearing 1989 auf die Rückwand der Chiesa San Antonio an der gleichnamigen Piazza aufgesprayt hat, springt kein Funke auf die studierende Jugend über. Seit den wilden sechziger Jahren, in denen sich vor allem Studenten aus Pisa als Hitzköpfe hervortaten, herrscht an der Universität Ruhe. Heute wird fleissig studiert, vor allem an der «Scuola Normale», die so normal, wie der Name klingt, nicht ist, denn dem «Normale» wird noch der Zusatz «Superiore» angehängt. Die «Scuola Normale Superiore» ist die ehrwürdige, 1810 nach französischem Vorbild gegründete Elite-Universität von Pisa. Drei Nobelpreisträger, die Physiker Enrico Fermi und Carlo Rubbia, sowie der Schriftsteller Giosue Carducci haben ihre Studienzeit in der «Normale», die an der historischen Piazza Cavalieri liegt, verbracht, ebenso der amtierende italienische Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi.

Trotz den vielen Denkern herrscht in Pisa auf dem Gebiet der technologischen und wirtschaftlichen Innovation zurzeit Funkstille; ein Genie vom Schlage eines Guglielmo Marconi, des Urvaters der drahtlosen Kommunikation, der 1903 bei Pisa eine erste Radiostation installierte, ist nicht in Sicht. Mit der wirtschaftlichen Stagnation Pisas gewinnt die Universität als Arbeitgeber weiter an Bedeutung, ebenso der Tourismus.

Rund um den Turm

Die Fremden verweilen nur wenige Stunden in Pisa und nehmen primär die Piazza dei Miracoli in Augenschein; man lässt sich vor dem Schiefen Turm ablichten und steigt dann den stabilisierten, seit vergangenem Dezember wieder freigegebenen Torre pendente hinauf. Um rund vierzig Zentimeter konnte die fünf Meter betragende Schräglage reduziert werden, so dass der Turm heute wieder denselben Neigungswinkel wie im 19. Jahrhundert aufweist. Oben auf dem Turm schauen die Besucher aus über fünfzig Meter Höhe auf die Baumwipfel des nahe gelegenen Orto Botanico (1543) von Pisa, des weltweit ältesten botanischen Gartens.

Nicht ins unmittelbare Blickfeld der Turmbesteiger gerät ein weniger bekanntes Kuriosum - die gotische, reich dekorierte Chiesa Santa Maria della Spina (13. Jh.) wirkt wie eine Attrappe, die man den Häusern am Arnoufer vor die Nase gesetzt hat. Der ungewöhnliche Standort des Sakralbaus erweckt den Anschein, als sei das Kirchlein vom Hochwasser irgendwo im Hinterland weggeschwemmt und von den Fluten des Arno auf die Mauer der Uferpromenade von Pisa gespült worden. Tatsächlich stand die mit Spitzgiebeln und Türmchen geschmückte Kirche jahrhundertelang nur wenig tiefer als heute; sie wurde 1871 demontiert und an erhöhter Stelle wiederaufgebaut.

Gabriele Detterer

 

Azienda Turistica di Pisa, Via Benedetto Croce 24/26, I-56125 Pisa, Tel. 0039 050 40096/40202, Fax 0039 050 40903.

Fondazione Teseco (hier wird das antike Boot «La Piroga» konserviert, kontrastreich die Sammlung aktueller Gegenwartskunst), Via Monasteri, 65121 Ospedaletto (Pisa), Besichtigungstermin nach Vereinbarung, Tel. 0039 050 987511.

 

 


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