Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 19. Januar 2002, Nr. 15, Seite 80

 

Hades, Hölle und Gefängnis

Eine Wandlungsgeschichte

Von Reinhard Brandt

 

Bild

Herakles und Kerberos, links Athene
Amphora des Andokides-Malers
Paris
(32KB)

Es ist ein wunderbares Bild des Andokides-Malers auf einer Bauchamphora (etwa 510 v. Chr.): Herakles dringt in den Hades, um Kerberos, den «finsteren Wächter der Tore», im Dienste des Eurystheus zu entführen. Die leicht gebückte Haltung des Helden, im Hintergrund die Schutzgöttin Athene, die Keule und das Löwenhaupt (des Nemeischen Löwen, den Herakles zuvor erlegte), alles voller Stärke und anrührender Beschwörung. Kerberos scheint noch ahnungslos über die Schwelle der Unterwelt hinauszublicken und die Gefahr nicht zu bemerken. Ein Baum erhebt sich zwischen ihm und Herakles und gibt der Szene einen fast idyllischen Charakter. Hades selbst, der unsichtbare König der Schatten, ist der Bruder des Zeus und des Poseidon, des Gottes der Meere, der in der «Ilias» von der Weltenteilung berichtet:

«Drei der Brüder doch sind wir, die Kronos erzeugte mit Rheia:
Zeus, ich selbst, und Hades, der Herrscher der Tiefe.
Dreifach geteilt ward das Weltall, und jeder gewann seine Herrschaft:
Ich erlangte, für immer das schäumende Meer zu bewohnen,
Da wir losten, und Hades die düstere Schattenbehausung,
Zeus erhielt den geräumigen Himmel in Äther und Wolken.
Aber die Erde ist allen gemein und der hohe Olympos.» (XV, 186-193)

EIN SCHEMA

So ist Hades von gleich hoher Geburt wie Zeus und Poseidon, und sie besitzen gemeinsam die Erde und den Olymp im Schema der ausgewogenen Ordnung von drei getrennten und einem vierten gemeinsamen Reich (1, 2, 3 - 4). Keiner, auch Hades nicht, bewohnt das Reich des Bösen; Kerberos ist stark und unerbittlich, er erfüllt seine Aufgabe, aber die Frage von Gut und Böse hat die Menschen und Götter noch nicht gespalten, wenn sich auch die seligen Gefilde der Helden, die Champs-Elysées der Antike, von den Verdammten der Unterwelt wie Sisyphos und Tityos erheblich unterscheiden.

Herakles ist nicht der erste Heros, der in die Unterwelt dringt; vor ihm waren Helden und Halbgötter des Orients im Reich der Schatten; Orpheus folgte, um Eurydike zu retten, dann Odysseus und Aeneas, um die Zukunft zu erkunden, Christus kam in die Vorhölle, und als Letzter durchwanderte Dante zusammen mit Vergil in dem gewaltigen Epos der «Göttlichen Komödie» das Infernum. Später verlor der «König der Schrecken» (Buch Hiob; Milton) seine Kraft; kein Lebender stieg mehr in die Tiefe des Todes, nur noch metaphorisch sprach Johann Georg Hamann von der «Höllenfahrt der Selbsterkenntnis» (nach römischer Vorlage), die dann von Freud in die psychoanalytische Praxis verlegt wurde.

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Christus in der Vorhölle
Holzschnitt von Albrecht Dürer
(28KB)

Es wurde nicht nur der Mythos des Niedergangs in den Hades vom Orient nach Griechenland, nach Rom und ins Christentum tradiert, sondern auch die Bild-Komposition des Andokides-Malers. Man vergleiche den Holzschnitt «Christus in der Vorhölle» von Albrecht Dürer mit dem Vasenbild des Andokides-Malers. Dürers Holzschnitt gehört als späte Zufügung (um 1510) zur sogenannten Grossen Passion. Christus naht sich dem Eingang der Unterwelt, er neigt sich nach vorne; den Platz der Athene nimmt jetzt ein Schutzheiliger ein, Kerberos ist den Scheusalen des Bösen gewichen, die Orte und die Figuren und die Gestik jedoch sind in der Amphore schon vorgezeichnet - die Identität der Komposition kann nicht auf einem Zufall beruhen. Aber welches sind die Wege der Erinnerung? Der Inhalt hat sich freilich gewandelt: Jetzt steht das Gute dem Bösen gegenüber, die ausgewogene Teilung der Herrschaft zwischen den drei Brüdern und ihr gemeinsamer Besitz der Erde und des Olymp ist ganz undenkbar geworden. Unversöhnbar stehen sie da, Gut und Böse, Gott und Teufel, Christus und die infernalischen Fratzen.

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Diogenes und Marat
in Villeneuves Zeichnung
(24KB)

Es gibt überraschend eine dritte Darstellung im gleichen Kompositionsschema; sie ist die künstlerisch geringste, eine Zeichnung von Villeneuve 1793 mit einem Motiv, das sich in einen klaren Kontrast zur christlichen Beanspruchung von Himmel und Hölle setzt. Nicht Herakles und nicht Christus, sondern der Strassenphilosoph, der Kauz und Kyniker Diogenes von Sinope (um 350 v. Chr.), ist jetzt in der linken Bildhälfte zu sehen; er ist leicht erkennbar an der Laterne, mit der er durch Athen ging, um einen Menschen zu suchen, einen Menschen, der diesen Namen wirklich verdiente (statt der normalen Athener, dieser Fabrikware der Kultur). Diogenes hat endlich nach der Suche durch etwa 2150 Jahre einen wirklichen Menschen entdeckt. Jean-Paul Marat, vom Ancien Régime inhaftiert, entsteigt mit der freundlichen Einhilfe des Kynikers dem Verlies, das an die Stelle von Hades und Hölle getreten ist.

GEWALTENTEILUNG

Vom Mythos zur Religion ist die Vorlage gewandert, jetzt gehört sie in die irdische Politik und deren Pamphlete, die die Erinnerung wachrufen und ändern: Die wahre Hölle, so die neue Lehre nach der Aufklärung, sind die Gefängnisse der Herrschenden, die wahre Befreiung ist die des Volkes von seinen Ketten. Eine Reminiszenz der mythischen und christlichen Vergangenheit ist die böse Schlange, deren Schwanz Diogenes kraftvoll niederhält.

Die friedliche Aufteilung der Welt in der harmonischen Ordnung 1, 2, 3 - 4, von der Homer erzählte, ist der gleich strukturierten Gewaltenteilung von Legislative, Judikative und Exekutive gewichen, zu der sich als vierte Gewalt die freie Presse gesellt. Sie ist Marats besonderes Verdienst, deswegen steht gut lesbar auf den Blättern, die er in der Linken hält: «Le publiciste de la république française». Marat verhalf dem Licht der Aufklärung zur politischen Wirksamkeit mit seiner Zeitung «L'ami du peuple», die eine Auflage von 100 000 Exemplaren erreichte.

 

 


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