Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 27. Februar 2002, Nr. 48, Seite 63

 

Das Eigene

Zwei Studien zum Recht auf Privatheit

Wie so vieles haben wir das folgenreiche Wort «privat» den Römern zu verdanken. Ursprünglich - so erläutert das Büchlein «Public Goods, Private Goods» von Raymond Geuss - wurde es vor allem gebraucht, um die Aufgaben von Amtsinhabern von ihren sonstigen Anliegen und Angelegenheiten abzugrenzen. Nicht anders als heute erwarteten die Römer, dass die Erfüllung der öffentlichen Funktion dem Eigeninteresse gegenüber Vorrang geniesse. Cäsars Überquerung des Rubikons war nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil er diese Rangordnung offen herausforderte. Er stellte seine dignitas, seine Ehre und Würde, über das Wohl der Allgemeinheit: «Der Verzicht auf diesen Übergang wird mir Unglück bringen, der Übergang aber allen Menschen», soll er ausgerufen haben, als die sprichwörtlichen Würfel fielen.

Die Unterscheidung publicus - privatus betraf somit anfänglich in erster Linie das Handeln von Personen mit hoheitlicher Macht. Im Verlauf der langen Begriffsgeschichte löst sich der Anwendungsbereich der Unterscheidung von den Amtsträgern und wandert von der öffentlichen auf die private Seite. Auch ämterlose Personen, Privatleute, können laut modernem Verständnis öffentlich handeln - nach John Stuart Mills verbreiteter Begriffsbestimmung dann, wenn die Folgen ihrer Handlungen nicht nur sie selbst, sondern auch andere betreffen. Die normative Pointe der neuen Unterscheidung liegt darin, für die privaten Angelegenheiten Schutz vor unerwünschten Einflussnahmen einzufordern. Innerhalb der privaten Sphäre sollen Einzelne ihre Angelegenheiten regeln dürfen, ohne staatlichen Stellen oder Privatpersonen Rechenschaft dafür zu schulden.

Die Analogie zum klassischen Verständnis staatlicher Souveränität sticht ins Auge: Das Private untersteht der Entscheidungshoheit des Einzelnen, und keine fremde Macht soll sich in dessen innere Angelegenheiten einmischen dürfen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde diese Vorstellung vom Privaten als Entscheidungshoheit durch ein weiteres Motiv ergänzt. 1890 erfanden Samuel Warren und Louis Brandeis in einem Aufsatz das «Recht auf Privatheit», das ihnen gemäss nicht nur durch Einmischung, sondern auch durch unerbetenes Beobachtetwerden verletzt werde. Warren verband mit diesem Aufsatz laut Geuss ein durchaus persönliches Anliegen, da er ein Verbot der Berichterstattung über die glanzvollen Gesellschaften seiner Frau erreichen wollte.

Der Gedanke eines «Rechts auf Privatheit» ist mittlerweile tief in der westlichen Kultur verankert. Freilich fehlt es nicht an Kritik. Die Philosophin Judith Jarvis Thomson gab bereits in den siebziger Jahren zu bedenken, dass es streng genommen ein derartiges Recht weder moralisch noch juridisch gebe, weil die mit ihm bezeichneten Ansprüche zu heterogen und überdies durch ordentliche individuelle Rechte bereits ausreichend geschützt seien. Raymond Geuss schliesst sich dieser Ansicht an und dehnt sie auf die Unterscheidung öffentlich - privat insgesamt aus»: «There is no such thing as the public/private distinction.» Bei näherem historischem Hinsehen auf paradigmatische Verständnisweisen von Diogenes bis Dewey erweise sich die eine Differenz als eine Vielzahl von Einzelphänomenen, die wenig miteinander zu tun hätten. In Bezug auf die vielen Unterscheidungen zwischen «privat» und «öffentlich» sei je und je zu fragen, zu welchem Zweck diese Abgrenzung getroffen werden solle - und dabei könne sich ein komplexes Muster von Bejahungen und Verneinungen des Privaten ergeben. Das schön zu lesende Buch belässt es bei diesen Andeutungen, so dass der Appetit für das Thema angeregt, aber der intellektuelle Hunger keinesfalls gestillt ist.

Hierfür greife man zu Beate Rösslers Werk «Der Wert des Privaten». Es geht von den Fragen aus, mit denen Geuss' Sammlung bedeutungsgeschichtlich bedeutsamer Episoden schliesst. Anders als Geuss und Thomson lässt sie sich von der Heterogenität dessen, was als privat bezeichnet und geschützt wird, nicht entmutigen. Sie schlägt vor, als «privat» diejenigen Entscheidungen, Informationen und Orte zu verstehen, zu denen andere nur mit Einwilligung des Individuums Zugang haben sollen. Entsprechend unterscheidet sie drei Dimensionen: dezisionale, informationelle und lokale Privatheit.

Der Wert des Privaten leitet sich nach Rössler aus dem Wert her, den Individuen in modernen Gesellschaften der Selbstbestimmung, der Autonomie, zuschreiben. Selbstbestimmt kann das Leben einer Person nur sein, wenn ihre Vorstellungen vom Guten in einem emphatischen Sinne ihre eigenen sind. Um zu wissen, ob man sich mit einem Projekt oder einem Wert wirklich «identifiziert», braucht man geeignete Umstände: Man muss buchstäblich und im übertragenen Sinn Abstand gewinnen können, um sich über das Eigene klar zu werden. Schützenswerte Privatheit ist nach Rössler der Inbegriff der Bedingungen, die wir brauchen, um die eigenen Werte und Vorhaben von dem zu unterscheiden, was andere uns nahelegen. Die These nun, um die es ihr geht, «behauptet, dass die eigentliche Realisierung von Freiheit, nämlich autonome Lebensführung, nur möglich ist unter Bedingungen geschützter Privatheit.»

«Privatheit als Ermöglichung von Autonomie» bildet nach Rösslers ausgereifter Arbeit auch das Kriterium, anhand dessen die Legitimität konventioneller Abgrenzungen von «privat» und «öffentlich» überprüft werden kann. Denn nicht alles, was als Privatsache deklariert wird und dem Blick der anderen verborgen bleiben soll, dient der Ermöglichung von Autonomie; und die Strukturierung der Privatsphäre ist nach wie vor eine, die Männern durchschnittlich in ungleich besserer Weise erlaubt, eine öffentliche Rolle zu spielen, als Frauen. Insofern ist das real existierende Private in der feministischen Literatur stärker mit Unterdrückung als mit Autonomie assoziiert.

Beate Rössler verdeutlicht mit grosser Gründlichkeit, dass hier das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden darf. Wir brauchen Kontrolle über den Zugang zu privaten Entscheidungen, Informationen und Räumen, um uns als autonome Wesen formieren zu können. Wie freilich Privates von Öffentlichem am Ende abgegrenzt wird, ist keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit.

Michael Schefczyk

 

Raymond Geuss: Public Goods, Private Goods. Princeton University Press, Princeton 2001. 148 S., $ 19.95.
Beate Rössler: Der Wert des Privaten. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2001. 380 S., Fr. 26.20.

 

 


Zurück zur Seite "Varia 2002"

Zurück zur Seite "Varia"