Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 27. Mai 2002, Nr. 119, Seite 25

 

Die digitale Sonnenscheibe von Alexandria

Ägyptens neue Bibliothek als Mittelpunkt der zukunftsorientierten Forschung

Von Kristina Bergmann

Die grösste und baulich interessanteste Bibliothek Ägyptens und des Nahen Ostens, die Bibliotheca Alexandrina in Alexandria, ist nach 13-jähriger Planungs- und Bauzeit betriebsbereit. Die Intellektuellen Alexandrias sind von der Weltklasse-Institution begeistert, fürchten aber Einschränkungen durch den Zensor.

Von nirgendwo ist die Bibliotheca Alexandrina auffallender als vom Meer aus. Trifft man in Ägyptens grösstem Mittelmeerhafen, Alexandria, mit dem Schiff ein, scheint das runde Gebäude völlig aus dem Rahmen der mit Jugendstilhäusern und gesichtslosen Wohnblöcken bestückten Corniche zu fallen. Von weitem gleisst und glänzt das zum Wasser abfallende Flachdach wie eine übergrosse Münze; erst beim Näherkommen erkennt man seine gläserne Struktur. Beschreibungen in Katalogen und in der Presse sprechen gern von einer «Sonnenscheibe», die mit ihrer Inklination zum Meer eine ewige Morgenröte symbolisiere. Die wiederum soll an die glorreichen Zeiten der Bibliothek der Ptolemäer anknüpfen, wo sich vor 2300 Jahren die geistigen Grössen trafen. Der Architekt des abgeschrägten Zylinders, Christoph Kapeller, sieht seine Kreation nüchterner: «Ich habe mich vom 486er-Computerchip inspirieren lassen. Er schaut praktisch genau wie das Glasdach der Bibliotheca aus.» Im Frühling 1989 hatte ihn das norwegische Architekturbüro Snøhetta aufgefordert, sich in seinem Namen am Wettbewerb der Unesco für den Bau der grossen Alexandriner Bibliothek zu beteiligen. Kapeller nahm die Herausforderung an, und nach nur sechs Wochen reichte er seine Pläne ein. Wenig später erhielt Kapeller einen Anruf aus Alexandria. Man gratulierte ihm und erklärte, sein Team habe unter 554 Eingängen den ersten Preis gewonnen.

Protest der Archäologen

Auf den Gedanken, die Bibliothek der Antike in moderner Form auferstehen zu lassen, war eine Gruppe von Professoren für alte Geschichte an der Universität Alexandria bereits in den siebziger Jahren gekommen. Als einer von ihnen, Mustafa al-Abbadi, ein Buch über die ptolemäische Bibliothek veröffentlichte, begannen sie nach Unterstützung für ihre Idee zu suchen. Ende der achtziger Jahre hatten sie die Unesco, die ägyptische Regierung und die Gattin von Präsident Mubarak für den Plan gewonnen, eine internationale Bibliothek mit einem herausragenden Forschungszentrum in Alexandria zu bauen. Beide sollten sich mit der reichen Vergangenheit, aber auch mit der Gegenwart des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens befassen. Im Februar 1990 hielten die Initiatoren einen Kongress zur Geldbeschaffung im oberägyptischen Assuan ab. Nicht zuletzt wegen Kapellers bestechendem Entwurf wurde er ein Erfolg. Am Ende der Sitzungen waren stolze 65 Millionen Dollar zu praktisch gleichen Teilen von Saudiarabien, dem Irak und den Arabischen Emiraten zugesichert worden. Glücklicherweise wurden sämtliche Beträge noch vor dem 2. August, als der Irak in Kuwait einmarschierte, nach Ägypten überwiesen. 26 weitere Länder aus der ganzen Welt spendeten danach 27 Millionen Dollar. Die restlichen zur Fertigstellung benötigten 120 Millionen Dollar brachte Ägypten auf.

Ende 1992 wurde mit der Räumung des Geländes begonnen. Seine Wahl war von den Projektleitern geographisch und historisch begründet worden: Die «Bibliotheca Alexandrina», wie sie nun heissen sollte, müsse in der Nähe der Alexandriner Innenstadt, der Universität, des Meeres und des untergegangenen ptolemäischen Palastviertels Regia-Bruchium liegen. Zwar kann man dessen Standort nur ungefähr lokalisieren, doch gilt es als sicher, dass in ihm die antike Bibliothek stand. Mohammed Awwad, ein prominenter Architekt und Präsident des um die Erhaltung des architektonischen Erbes bemühten Alexandria Preservation Trust, appellierte an die Behörden, den Bauplatz nach antiken Überresten untersuchen zu lassen. Die Bauunternehmer schickten stattdessen Bulldozer. Erst als Awwad mit einem Prozess drohte, durften die Archäologen als Kompromisslösung die östliche Hälfte des Geländes ausgraben. Spektakuläre Funde waren zwei ptolemäische Bodenmosaiken und eine Büste von Ptolemaios III. Die westliche Hälfte wurde den Baumaschinen geopfert oder, wie Awwad es ausdrückt, «massakriert».

Nach der Freilegung des 45 000 Quadratmeter grossen Terrains wurde das Gebäude in drei Phasen errichtet. Vier der insgesamt elf Etagen sind in den Untergrund verlegt. Auf diese Weise besitze das Gebäude mit 80 000 Quadratmetern die Fläche eines Wolkenkratzers, wirke jedoch niedrig und kompakt, erläutert Kapeller. In der zweiten Phase wurde der oberirdische Bau hochgezogen, in der dritten die Innenausstattung fertiggestellt. Als besonders attraktiv hat sich die Verkleidung des Rundbaus erwiesen. Dafür hat man - im Anklang an das pharaonische Erbe - grauen, unpolierten Granit aus Assuan verwendet, der von Steinmetzen mit Buchstaben sämtlicher 120 Alphabete der Menschheit verziert wurde. Keines der Zeichen könne als ein Wort identifiziert werden, kommentiert der Direktor der Bibliotheca, Ismail Serageddin. Vielmehr habe man zeigen wollen, dass die Alexandrina dem Wissen aller Völker verpflichtet sei. Ähnlich verhält es sich mit dem flachen Wasserbecken, in dem die östliche Hälfte des Gebäudes steht. Wasser deutet hier auf Verbundenheit und Internationalität, die Papyruspflanzen hingegen auf Ägypten und seine geniale Erfindung des ersten rollbaren Schreibmaterials.

Bleibt bei so viel Symbolik noch Platz für die eigentliche Arbeit der Bibliotheca? Ja, meint Serageddin. Als Beweis verweist er auf den Lesesaal, welcher der grösste der Welt sein soll. «Hier finden sich modernste Technik, benutzerfreundliche Einrichtungen und Sinnbilder für das harmonische Zusammenleben der Menschen in vollkommener Symbiose», meint der Direktor. Der Anblick ist überwältigend, ob man nun Symbolkraft oder ungestörtes Lesevergnügen sucht. Auf sieben Stockwerken ziehen sich die offenen, mit Bücherregalen bestückten Ebenen parallel zum ansteigenden Glasdach hin. Die Höhe des Raums wird durch die schlanken Betonsäulen sichtbar. Bewegliche «Lider» der Oberlichter schützen nicht nur vor direkter Sonne, sondern werfen mit farbigen Scheiben grünes und blaues Licht auf die Säulen und lassen sie so zu dem werden, was sie in den pharaonischen Tempeln waren: die aus dem Ursumpf hervorspriessende Vegetation. Bei der Ausstattung habe der Wunsch nach Widerstandsfähigkeit der Materialien überwogen, merkt Serageddin an. Gespart wurde dabei nicht. So stammt das resistente Eichenparkett aus Amerika, der schwarze Marmor aus Simbabwe. Die Tische und Stühle wurden aus Buchenvollholz eigens angefertigt. Die Wandverkleidung schliesslich dämpft mit unzähligen kleinen Löchern den Lärmpegel auf ein Minimum. «Im vergangenen Oktober waren bei der einmonatigen Probeöffnung täglich bis zu 7000 Besucher im Saal», sagt Ismail Serageddin. «Zu hören war praktisch nichts.»

Ambitionen contra Armut

Sowohl von Seiten der einfachen Leser wie auch der Wissenschafter wird es wohl auch in Zukunft kaum an Beifall für das gleichermassen futuristische, geschmackvolle und «behagliche» Gebäude mangeln. Neben den lobenden sind jedoch auch kritische Stimmen laut geworden. Bereits bei Baubeginn empörte sich John Rodenbeck, ein Experte für die alte und neue Geschichte Alexandrias an der American University in Kairo, über die enormen Kosten. «Es ist absurd, eine solche Summe für eine sogenannte internationale und kolossale Bibliothek in einer Stadt auszugeben, die vor Armut, Verfall und Dreck starrt», wetterte er damals. Damit traf Rodenbeck einen wunden Punkt, denn das Projekt stand mit seinen baulichen und wissenschaftlichen Ambitionen in krassem Gegensatz zu den wirtschaftlichen und sozialen Realitäten Ägyptens. Doch manches hat sich inzwischen geändert. Gleichzeitig mit dem Bau der Alexandrina ist nämlich die Hafenstadt generalüberholt worden, so dass sich die extravagante Konstruktion weniger von ihr abhebt, als man ursprünglich annahm.

Das Argument, dass die Bibliotheca in einem Land mit rund 30 Prozent Analphabeten keinen Platz habe, lässt Serageddin nicht gelten: «Der Andrang der Besucher bei der Probeöffnung spricht dagegen. Ausserdem ist die Alexandrina nicht eine einfache Bücherei, sondern wird mit mutigen Konferenzen und Diskussionen gegen Obskurantismus und jegliche Art von Fundamentalismus kämpfen.» Kernstück der Tagungen soll die Aufgabenstellung «Ethik in der modernen Welt» sein; als Beispiel erwähnt Serageddin die künstliche Befruchtung, die auch in Ägypten häufig zu Debatten zwischen Geistlichen und kinderlosen Eltern führe. Damit werde die Spezialisierung angestrebt, denn nur mit dieser könne man sich in dem reichen Konferenzangebot weltweit behaupten. Auch die Bücherkollektion, die im Moment erst 400 000 Bände umfasse, in den kommenden Jahren aber auf 4 Millionen Bücher aufgestockt werden soll, werde sich auf wissenschaftlichem Gebiet grundsätzlich dem Thema «Ethik» verpflichten.

Die geringe Anzahl der vorhandenen Bände ist vielfach bemängelt worden. Doch der französische Berater für die Einrichtung der Bibliothek, Gérald Grunberg, tut die Kritik mit einem Kopfschütteln ab: «Wir leben im Zeitalter der Informatik, auch in Ägypten. Genau wie die Pariser Bibliothèque Nationale wird auch die Bibliotheca die meisten Besuche auf ihrer Website erhalten.» In dieser Hinsicht sei man in Alexandria mit dem Zugriff auf 300 000 Bücher und rare Manuskripte per Internet gut ausgerüstet. Als positive Besonderheit der Alexandrina hebt Grunberg ihre Internationalität hervor: «Es ist die einzige Bibliothek der Welt, die in drei Sprachen, nämlich Arabisch, Englisch und Französisch, arbeitet.»

Salman Rushdie noch erlaubt

Einer weitaus verzwickteren Frage wird sich die Bibliothek erst in Zukunft stellen müssen: Werden in dieser völkerumfassenden Bibliothek anerkannte Bücher aus religiösen oder moralischen Gründen der Zensur zum Opfer fallen? Vorerst kann Serageddin dies verneinen; der legale Status der Bibliothek erlaube sowohl den Erwerb der Bücher von Henry Miller als auch jener von Salman Rushdie. Doch zahlreiche Intellektuelle argwöhnen, dass in Alexandria das Gleiche wie vor zwei Jahren an der American University in Kairo passieren könnte, welche bisher Ägyptens wichtigste Bibliothek beherbergte. Dort mussten auf Geheiss des Zensors 80 Bücher wegen «Verunglimpfung des Propheten Mohammed» oder wegen «pornographischen» Inhalts aus dem Verkehr gezogen werden. Dazu gehörten bekannte Titel wie Montgomery Watts «Islamic Political Thought», Vladimir Nabokovs «Lolita» und «Das nackte Brot» des Marokkaners Mohammed Choukri.

Sollten solche Bücher trotz allem in der Bibliotheca Alexandrina bleiben, wird sie sich dann zum echten Forschungszentrum entwickeln können, das sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit den grossen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Problemen der heutigen Zeit auseinandersetzt? Oder wird der Staat, der sich nur allzu häufig als Gegner der Meinungsfreiheit manifestiert, einen Strich durch die Rechnung machen? Der Architekt Mohammed Awwad zeigt mit dem Finger nach oben. «Allahu aalam», sagt er - das wisse Gott allein.

Kristina Bergmann ist NZZ-Korrespondentin in Ägypten.

Unter www.bibalex.gov.eg findet man weitere Angaben.


Verbrannt und verschwunden

ber. Die alte Bibliothek Alexandrias wurde um das Jahr 295 v. Chr. von Ptolemaios Soter im Königsviertel errichtet. Hier wurden rund 500 000 Papyrusrollen aufbewahrt, was etwa 100 000 Büchern zu je 300 Seiten entspricht. Bedenkt man, dass 1200 Jahre später die weltberühmte Klosterbibliothek in St. Gallen 1000 Bücher besass, so wird das herausragende Wissen der ptolemäischen Zeit deutlich. In Alexandria schrieb Euklid das einflussreichste Mathematikbuch aller Zeiten, und Eratosthenes berechnete hier den Erdumfang. Bis heute weiss man nicht genau, wie die Bibliothek zugrunde ging. Nach Meinung des Direktors der heutigen Bibliotheca Alexandrina, Ismail Serageddin, waren mehrere Ereignisse an ihrer Vernichtung schuld. Im Jahre 48 v. Chr. legte Julius Cäsar ein Feuer im Hafen, um sich und Kleopatra vor einer Palastrevolte zu retten. Es griff auf die nahe gelegene Bibliothek über, wobei die Hälfte der Rollen verloren ging. Die Niederschlagung des Aufstands der Juden gegen die römische Herrschaft 114 n. Chr. und die Auseinandersetzungen zwischen Christen und «Heiden» im 4. Jahrhundert setzten ihr weiter zu. Der endgültige Untergang sei allerdings nicht - wie vielfach behauptet - das Werk der Araber, sagt Serageddin: «Als die muslimischen Eroberer im 7. Jahrhundert nach Ägypten kamen, lag die Bibliothek längst in Schutt und Asche».

 

 


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