Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ LITERATUR UND KUNST Samstag, 11.12.1999 Nr. 289  84

 

 

Julius Cäsar und Dionysius Exiguus

Über die Herkunft unseres Kalenders

Von Ernst Bieri

Das Hilfsmittel, sich in der bedrängenden Unübersichtlichkeit der hinter uns liegenden Ereignisse und der unbekannten Pfade in die Zukunft zurechtzufinden, ist der Kalender. Die beiden Leuchttürme des heute weltweit in Gebrauch stehenden westlichen Kalenders sind die Definition des Jahres und seine Einteilung in Monate, Wochen und Tage einerseits und die Zählung der Jahre anderseits. Die Definition und Einteilung verdanken wir Julius Cäsar, der 45 v. Chr. den alten republikanischen Kalender durch einen neuen ersetzte.

Die Zählung geht auf den skythischen Mönch Dionysius den Geringen zurück, der 525 im Auftrag von Papst Johannes I. die Ostertafeln neu ordnete. Er griff auf den 532-Jahr-Zyklus von Victorius von Aquitanien zurück (Mondzyklus 19 Jahre × Sonnenzyklus 28 Jahre). Im Jahr 525 setzte er den Beginn der neuen Periode auf 532 fest und bezeichnete den Beginn der laufenden Periode als das Jahr der Geburt Christi: 1 v. Chr.

Er hielt es für unpassend, dass die Kirche nach der Diokletianischen Ära (284 n. Chr.) zählte; nicht der Christenverfolger oder seine Opfer, sondern Christus sollte die Zählung beherrschen. Die Einführung von Christi Geburt (sie fand tatsächlich wohl 7 v. Chr. statt) als Bezugspunkt der Jahreszählung war ein Nebenprodukt der Arbeit an den Ostertafeln; die Bestimmung des Osterfestes war zwischen östlichen und westlichen Kirchen umstritten, obwohl das Konzil von Nicäa 325 dekretiert hatte: Ostern findet am ersten Sonntag nach dem Vollmond statt, der an oder nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche gesehen wird.

 

SONNENJAHR

Julius Cäsar ersetzte den alten lunaren Kalender durch die konsequente Ausrichtung auf das Sonnenjahr, beraten von einem Kenner der ägyptischen Astronomie. Das ägyptische Sonnenjahr zählte 365 Tage und war kürzer als das tropische Jahr. In 30 Jahren hinkte man eine Woche nach. Cäsar definierte das Sonnenjahr auf 3651/4 Tage und löste die Sache ganzzahlig mit einem Schalttag alle 4 Jahre. Die Priesterschaft verhedderte sich in den Schaltjahren, bis Kaiser Augustus ordnend eingriff.

Die Monate übernahm Cäsar aus dem alten Kalender, inbegriffen ihre Namen. Nur Juli und August wurden dann zu Ehren der beiden Herrscher neu erfunden. Eine Woche kannte der Julianische Kalender nicht, wohl aber die Zählung der Tage eines Monats, allerdings rückläufig und nicht wie heute vorwärts. Unter Augustus wurde der Jahresanfang auf den 1. Januar festgesetzt und später die Woche eingeführt. Babylonische und griechische Ursprünge haben die Namen der Wochentage: es sind Namen der Planetengötter.

Das julianische Sonnenjahr war um ein geringes zu lang. Der Fehler summierte sich aber im Lauf der Jahrhunderte (7 Tage in 1000 Jahren). 1582 verfügte Papst Gregor XIII. die Streichung von 10 Tagen und der Schalttage in den Jahrhundertjahren, die nicht durch 400 teilbar sind. Es war eher eine Korrektur des Julianischen Kalenders als eine «Reform», unter welchem Titel Rom natürlich dem Cäsar die Palme entwinden wollte. So kam es, dass die protestantischen Länder (und in der Schweiz die protestantischen Orte) bis ins 18. Jahrhundert die Korrektur ablehnten. Graubünden nahm die Gregorianische Reform erst auf Dekret des Direktoriums der Helvetischen Republik an. In der Gemeinde Susch ging es gar nur mit Waffengewalt.

Der Kalender «neuen Stils» trat in der Neuzeit seinen Siegeszug auch in nichtchristlichen Ländern an: Japan 1872, Sowjetunion 1918, Türkei 1927, China 1949. Die nächste Korrektur ist erst in mehreren Jahrtausenden fällig, weil die Differenz zwischen dem Kalenderjahr und dem astronomischen Sonnenjahr nur geringfügig ist (in 400 Jahren drei Stunden).

Ein harmloses Gegenstück zum Millenniumproblem der Computer sind die Taschenrechner mit Quarzuhren und Wochentag. Ihr Algorithmus ist julianisch; ihre Datumangaben sind deshalb beschränkt auf die Jahre 1901 bis 2099.

 

WANN BEGINNEN EPOCHEN?

«Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen», notiert Goethe am 19. September 1792 in seiner «Campagne in Frankreich» über die Kanonade von Valmy. Zwei Tage später wurde in Paris die Republik ausgerufen. Während die Kalender an Naturvorgängen am Himmel (Sonne und Mond) und auf der Erde (Vegetationszyklen) orientiert waren und die Einteilung in Jahr, Monat, Tag sozusagen auf der Hand lag - nur die Siebentagewoche ist vorwiegend religiös-kultisch begründet, in der Schöpfungsgeschichte der Genesis -, mussten für kürzere oder längere Perioden die Anhaltspunkte in der Geschichte der Menschen gesucht werden: Herrscherjahre, Gründung einer Stadt, Olympiaden, Flucht aus Mekka oder eben herausragende Ereignisse (Valmy, Französische Revolution, 1. Atombombe, 1989 . . .). Die trockene, mechanistische Aufreihung von Jahren mit ihren gleichmässigen Intervallen stand unseren Vorfahren nicht im Sinne. Es mussten wichtige Begebenheiten die Geschichte gliedern.

Eine davon war die Schöpfung der Welt. Die jüdische Weltära, darauf hat sich die rabbinische Tradition geeinigt, beginnt genau am 7. Oktober 3761 (v. Chr., wie wir heute datieren), die alexandrinische am 25. März 5492, die byzantinische am 1. September 5509, die islamische am 15. Juli 622 (n. Chr.). Die byzantinische Ära wurde im 7. Jahrhundert als die christliche Weltära ausgerufen: anno mundi. Es sind rund 200 Welt-Zeitalter mit der Schöpfung als Ausgangspunkt gezählt worden. Die Begründung ist vorwiegend religiös und stützt sich auf Generationenfolgen in entsprechenden heiligen Büchern.

Die Römer zählten nach Amtsjahren der Konsuln; Varro verkündete zwar den 21. April 753 (v. Chr.) als Gründung Roms, aber sein «ab urbe condita» wurde nur in wissenschaftlichen Kreisen verwendet, im bürgerlichen Verkehr hielt man sich an die Jahre der Konsuln. Der Nagel, der seit 507 v. Chr. über dem Jupitertempel auf dem Kapitol jedes Jahr eingeschlagen wurde, avancierte nicht zu einer allgemeinen fortlaufenden Jahreszählung.

Konstantin der Grosse führte 312 die «Indikationen» ein, 15jährige Steuerzyklen. Gezählt wurde nur innerhalb des Zyklus, nicht die Abfolge der Zyklen. Die einzige unserem Verständnis näherkommende Gliederung waren die Olympiaden der Griechen. Ausgangspunkt war 776 v. Chr., und gezählt wurden nicht nur die vier Jahre, sondern auch die Olympiaden in ihrer Abfolge.

Die Zählung des Dionysius «nach Christi Geburt» brauchte 300 Jahre, bis sie in die kaiserlichen Archive, und 400 Jahre, bis sie in den Vatikan vordrang. Dieser selbst datierte seine Briefe nicht «christlich», sondern nach den Steuerterminen. Beda Venerabilis, der britische Gelehrte (672-735), wird als Bahnbrecher der neuen Zeitrechnung gepriesen, doch verwendete er vorwiegend den 532-Jahre-Osterzyklus. Immerhin, als erster machte er einmal eine Datierung «vor der Inkarnation», d. h., er deutete die retrospektive christliche Zeitrechnung an. Die Zählung «vor Christus» kam erst mit dem Buchdruck auf. Noch Luther verwendet für solche Daten die byzantinische Weltära.

Der Kalender der Französischen Revolution setzte rückwirkend den 22. September 1792 als den Beginn des Jahres I fest. Es gab, wie in allen anderen Kalendern, kein Jahr Null. Die Monate, Tage und Stunden wurden dezimalisiert, die Woche abgeschafft und durch 3 Dekaden pro Monat ersetzt. Die «ère des Français» wurde 1804 von Napoleon aufgehoben. Als Kuriosum sei vermerkt, dass Nietzsche im Anschluss an seinen «Antichrist» ein «Gesetz wider das Christentum» erliess, «gegeben am Tage des Heils am ersten Tage des Jahres Eins - am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung».

Das Bedürfnis nach einer kühlen arithmetischen Gliederung der Geschichte war, mindestens in der vorindustriellen Welt, in der Bevölkerung nicht stark entwickelt. Man hielt sich lieber an begreifbare Verdichtungen der Geschichte in Kaisern, Königen, Päpsten und war es zufrieden, wenn die Kirche ihre zum Teil beweglichen Festtage ohne grossen Streit über das richtige Datum feierte. Die grossen Zusammenhänge hingegen mussten den Geruch des Faszinierenden tragen, daher die Vorliebe für die Abfolge von (3, 4 oder 6) Weltaltern, die den Gang der Menschheit von einem unschuldigen Urzustand über den zunehmenden Abfall in Sünde und Verderbtheit bis zum bang erwarteten Finale mit dem breiten Pinsel malten.

Die Heilsgeschichte war das Thema der grossen, übergreifenden Epochen. Und fast immer stellten die Theologen und die Prediger das bevorstehende Weltende in einer absehbaren, aber doch nicht allzu genau definierten Zukunft in Aussicht, den Auserwählten zum Heil, der massa damnata zum Verderben (Augustin). Die aufgeregte Stimmung der Naherwartung musste zwar gedämpft werden, aber mit dem Beizug kosmischer Dimensionen konnte man die Herde dennoch im Griff halten.

Die christliche Patristik konzentrierte sich auf dogmatische Fragen und auf Subtilitäten des Ostertermins, die von heute aus fast unverständlich anmuten. Doch sie hat uns eine Zeitrechnung beschert, die unter praktischen Gesichtspunkten ein ebenso grosser Beitrag zur Kultur ist wie die Siebentagewoche: die gleichmässig fortlaufende Numerierung der Jahre mit einem Mittelpunkt, der mit seiner groben Einteilung in ein Nachher und ein Vorher einen Überblick über die Geschichte erlaubt. 

 


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