Alte Sprachen lernen

PR Kommission für den AU

Warum Alte Sprachen lernen?

Überlegungen der PR Kommission des Schweizerischen Altphilologenverbandes

Résumés français par Ch. Haller


Liebe Familie X

Alois Kurmann, Einsiedeln

Liebe Familie X.

Sie überlegen sich in diesen Wochen, ob Sie Ihrem Sohn / Ihrer Tochter raten wollen, sich für Latein / Griechisch zu entscheiden. Da eine Entscheidung von vielen Gesichtspunkten abhängt, möchten wir Ihnen einige Überlegungen zur Verfügung stellen; wir hoffen, Ihnen damit eine gewisse Orientierung zu geben. Wir sagen zum vornherein offen, dass wir für das Studium des Lateins sprechen und dass es uns ein Anliegen ist, an unserer Schule möglichst vielen Schülern Latein und Griechisch geben zu können.

I

1. Latein ist nicht eine "tote" Sprache, wie oft gesagt wird, sondern das Latein hat sich im Laufe der Zeit so verändert, dass es in verschiedenen Formen weiterlebt, nämlich im Italienischen, Französischen, Spanischen, Portugiesischen und auch im Deutschen. Das ist in sehr vielen Wörtern sichtbar; so wird aus dem Lateinischen homo (Mensch) homme, uomo, hombre. Es ist klar, dass man diese Sprachen, in denen das Latein weiterlebt, leichter lernt, wenn man etwas von Latein versteht.

2. Latein und Griechisch sind aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt unter uns lebendig. Auf jedem Schweizer Auto stehen die zwei Buchstaben CH neben der Nummer. Warum steht nicht SCH, was doch viel leichter als Abkürzung für "Schweiz" zu erkennen wäre? Das CH ist Abkürzung für die zwei Wörter Confoederatio Helvetica, was der lateinische Name unseres Staates ist: "Schweizerische Eidgenossenschaft". Auch unser Fünfliber trägt etwas Lateinisches an sich: rund um den Aussenrand sind die Worte "Dominus providebit" eingraviert, was uns daran erinnern kann, dass Geld allein zu einem sinnvollen Leben nicht genügt; darum "der Herr wird sorgen". Wir könnten nun eine fast nicht endende Liste von Wörtern erstellen, die wir selbstverständlich in unserem Alltag brauchen und die alle lateinisch oder griechisch sind oder mit Hilfe dieser zwei Sprachen künstlich geschaffen wurden: Fenster, Mauer, Strasse, Keller, Auto, Radio, Plastik, Aspirin... Latein und Griechisch leben mitten unter uns!

3. Wir können aber auch noch vieles aus der Welt der Griechen und Römer in unserer Umwelt sehen. Es gibt Römerstrassen (Grosser St. Bernhard, Bözberg), Tempel, Theater, Wohngebäude aus der Römerzeit (Avenches, Augst), die Museen haben grosse Sammlungen von griechischen und römischen Statuen, Vasen, Bildern, Schmuck, Werkzeugen. Und viele Menschen reisen gerne zu Überresten von römischen und griechischen Städten und Bauten in Italien, Griechenland, Spanien, Frankreich, Slowenien, Kroatien.

4. Latein und Griechisch sind aber auch in all den Bereichen unseres Lebens gegenwärtig, die über den Alltag hinaus gehen und uns deshalb so wichtig sind. Sie nehmen vielleicht gerne einmal in der Kirche an einem feierlichen Gottesdienst teil, wo von einem Chor, vielleicht begleitet von der Orgel oder einem Orchester, Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus gesungen werden. Vielleicht ziehen Sie es vor, solche Gesänge in einem Konzertsaal zu hören. Grosse Komponisten wie Mozart, Beethoven, Haydn aber auch moderne, haben diese Texte vertont. - Viele von uns lesen gerne klassische oder zeitgenössische Literatur: Romane, Novellen, Gedichte. Es gibt bis heute kaum einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin im europäischen Raum, die nicht in der Wahl ihrer Themen, in der Sprache und in der Gestaltung ihrer Werke von griechischer und lateinischer Literatur abhängig sind. Bis heute werden im Theater immer wieder Stücke gespielt, die von antiken Autoren stammen, etwa Antigone von Sophokles, die Komödien von Aristophanes und andere. Gerade in den letzten Jahren haben auch Schultheater öfter solche Stücke aufgeführt.

Alle erwähnten Tatsachen zeigen, dass Latein und Griechisch in unserem Alltag gegenwärtig sind. Wer Alte Sprachen lernt, lernt also nichts "Totes" oder Unnützes; er kommt vielmehr in Kontakt mit den Wurzeln unseres eigenen täglichen Lebens.

II

Wenn es um eine so wichtige Frage wie die Wahl der Studienrichtung geht, fragen Sie mit Recht, was denn der eigentliche "Nutzen" von Latein und Griechisch ist. Es geht also um die Frage, wer Latein oder Griechisch für das Studium an der Hochschule braucht. Die schweizerischen Universitäten haben diese Frage geregelt, und die Regelung wird für die nächsten Jahre gültig sein. Eine Lateinmatura muss haben, wer Sprachen und Literatur, Geschichte, Archäologie, Theologie (dafür auch Griechisch) oder Philosophie studieren will. Wer im Gymnasium kein Latein gemacht hat, muss es auf der Universität nachholen, wenn er eines dieser Fächer studieren will. Dieses Nachholen ist sehr schwierig und auch teuer. - Weil die alten Sprachen noch so spürbar nahe in unserem Alltag vorhanden sind, ist ihre Kenntnis auch für alle jene ein grosser Vorteil, die Journalismus, Politikwissenschaft, Medizin und Rechtswissenschaft studieren wollen. Und schlisslich gibt es immer wieder Studenten der Naturwissenschaften (Mathematiker, Chemiker, Physiker), die es als grossen Nutzen ansehen, dass sie Latein oder Griechisch gemacht haben. So kann man ganz einfach sagen: Eine Matura mit Latein und / oder Griechisch gibt ein so breites Fundament, dass sie wirklich für jedes Universitätsstudium von Vorteil ist.

III

Zusätzlich zu allen bisherigen Überlegungen, die für das Studium des Lateins und des Griechisch sprechen, muss auch noch Folgendes gesagt werden: Alles, was ein junger Mensch sich aneignet, ist für ihn ein geistiges Kapital, das ihm immer wieder zu Gute kommt. Kein Beruf und kein Studium gibt in der heutigen Zeit, wo alles so schnell ändert, die Garantie, dass jemand für sein ganzes Leben auf seinem Beruf bleiben kann. Es kann jederzeit die Notwendigkeit kommen, sich neu orientieren, eine neue berufliche Ausrichtung suchen zu müssen. Das wird mehr und mehr auch die akademischen Berufe treffen. Ohne Zweifel hat jemand, der eine breite Grundausbildung hat, eine grössere Beweglichkeit und mehr Möglichkeiten, sich neu zu orientieren.

A. Kurmann, Einsiedeln

Latein im neuen MAR - Erfahrungen im Bereich Information und Public Relations

E. Kuster, Kantonale Mittelschule Uri

Strukturelle Voraussetzungen

An unserer Schule beginnt ab Schuljahr 1998/99 im Obergymnasium die Umsetzung des neuen MAR. Im Schuljahr 1997/98 galt es also, für den ersten betroffenen Jahrgang informationsmässig die Weichen zu stellen. Latein hat bei uns künftig den Status eines Schwerpunktfaches. (Griechisch figuriert nicht mehr im Fächerangebot, weil in den vergangenen Jahren keine Griechischkurse mehr zustande kamen.) Die Schwerpunktphase umfasst bei uns neu die letzten drei Jahre des Gymnasiums, von der vierten bis zur sechsten Klasse also. Da der Lateinunterricht in der ersten und zweiten Klasse des (Unter)gymnasiums vor zwei Jahren unter dem politischen Druck der Durchlässigkeit zur Sekundarschule abgeschafft wurde, hätten wir also nur noch eine dreijährige Lateinausbildung. Um dies zu vermeiden, entschied sich die Schule, in der dritten Klasse eine Vorstufe zur Schwerpunktphase zu kreieren in Form von drei sogenannten Brückenfächern. Dies sind Latein,Italienisch und eine Neuschöpfung mit dem Namen RDI (= Raum, Darstellung, Informatik). Ab der vierten Klasse gibt es dann sechs Schwerpunktfächer, wo also nochmals von den SchülerInnen eine Wahl getroffen werden muss.

Konkrete Arbeitsschritte

Es ging nun also im abgelaufenen Schuljahr darum, die Schüler und Schülerinnen der zweiten Klassen und deren Eltern auf die Wahl des Brückenfaches vorzubereiten. Wie schon erwähnt: Die Schüler hatten bisher noch kein Latein; mit Italienisch dagegen sind sie vertraut, weil unser Kanton in der Primarschule Frühitalienisch führt.

Da das ganze Informations- und Wahlverfahren zum ersten Mal durchgespielt wurde, gab der Rektor den betroffenen Fachschaften die Möglichkeit, die Brückenfächer im Jahresbericht 96/97 vorzustellen. Er erscheint jeweils zu Beginn des neuen Schuljahres. Damit erreichten wir eine erste grössere Öffentlichkeit und natürlich auch alle involvierten Eltern und Schüler. (Später konnte dann auch zu Informationszwecken auf diese Veröffentlichung verwiesen werden.) Den Lateinbeitrag stellten wir unter das Thema: Latein ist nicht tot. Er fand übrigens ein gutes Echo.

Der nächste Informationschritt bestand in einer schriftlichen Orientierung der Eltern unserer Zweitklässler durch die Schulleitung im Monat November, wo das ganze MAR-System erläutert wurde. Im Rahmen dieses Dossiers hatten die Brückenfächer die Aufgabe, auf einem A4-Blatt ihren Bereich darzustellen und vor allem die Argumente für die Wahl gerade dieses Faches vorzuführen. Im selben Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass vor der endgültigen Entscheidung, die Ende Januar zu erfolgen hatte, noch Orientierungen über die Brückenfächer in allen zweiten Klassen und ein gemeinsamer Elterniformationsmorgen anfangs Januar stattfinden würden. Für die Klasseninformation teilten wir zwei Lateinlehrer uns in die vier Klassen. Es stand uns eine Lektion zur Verfügung, die irgendein Kollege abzu-treten hatte. Diesen wohl wichtigsten Schritt innerhalb der ganzen Informationskampagne bereiteten wir fachintern im Rahmen eines Arbeitstages während der Herbstferien vor (Informationsinhalte, Materialsammlung, Vorgehens- und Präsentationskonzept usw.) Im übrigen waren auch (früher schon)immer wieder Bespre-chungen mit der Schulleitung vonnöten, um die Vorgehensweise und das Gesamtkonzept abzusprechen. Es wurde z.B. auch der Beizug von externen, kompetenten Personen zwecks Public Relations erörtert (und von der Schulleitung grundsätzlich gutgeheissen.) Aus Zeitgründen wurde darauf aber dann verzichtet. Hingegen lud ich einen geeigneten Schüler der Maturaklasse ein, an dieser Klasseninformation teilzunehmen und aus seiner Sicht die positiven Momente für die Wahl von Latein darzulegen. Auch dies musste gründlich vorbesprochen und vorbereitet werden. Aus meiner Warte dürfte sich der Beizug eines älteren Schülers aber gelohnt haben.

Die letzte offizielle Informationsveranstaltung war dann die schon erwähnte Orientierungsversammlung nach den Weihnachtsferien. Sie wurde in der Lokalpresse öffentlich ausgeschrieben und in der Folge auch von Eltern interessierter Sekundarschüler sowie von Sekundarlehrkräften und Schulbehörden sehr zahlreich besucht. Nach einer allgemeinen Einführung durch die Schulleitung hatte jedes Brückenfach ca. 15 Min.Zeit, noch einmal etwas Propaganda zu machen und die wichtigsten Aspekte für die Wahl ebendieses Faches darzulegen.Selbstverständlich konnten die Anwesenden anschliessend Fragen stellen und sich mit den entsprechenden Lehrkräften privat beraten. Ende Januar hatten die Schüler ihre definitive Wahl des Brückenfaches bekanntzugeben. Von 84 Schülern wählten 43 Latein.

Zum Inhaltlichen

Bei allen Informationstätigkeiten lag ein Schwerpunkt darauf, die Gegenwart der alten Sprachen im Hier und Jetzt aufzuzeigen. Im Folgenden seien einige Möglichkeiten und ausgewählte Beispiele aufgelistet, die beim einen oder anderen Informationsgefäss zur Anwendung kamen.

  • Erklärung von Vor- und evt. auch Nachnamen, die aus dem Lateinischen stammen (Urs, Claudia, Felix, von Arx etc.)
  • Geographische Namen: Orts- und Flurnamen, möglichst aus der Umgebung (Furka, Furggeli, Isleten, Gampelen, Hospental etc.)
  • Bekannte Firmen- und Produktenamen (Novartis, Secura, Audi, Ovomaltine, Heliomalt, Sinalco etc.)
  • Begriffe aus dem Alltag (Pro Juventute, Pro Patria, Interimspräsident etc.)
  • Lat. Wörter und Ausdrücke in der Umgangssprache (in dubio pro reo, in medias res, pro und contra, ex aequo, et cetera)
  • Römische Ziffern
  • Gegenstände des Alltags (CH-Zeichen, Helvetia auf dem Zweifränkler, Dominus providebit beim Fünfliber etc.)
  • Lehnwörter, z.B. bei Früchten: Feige, Birne, Kirsche, Nuss
  • Einschlägige Fremdwörter
  • Römer in der Schweiz: Baudenkmäler, Ruinen, alte Römerstädte
  • Lat. Inschriften und Häuseraufschriften aus dem lokalen Bereich
  • Bekannte Beispiele aus der antiken Mythologie (Oedipus, Sisyphus etc.)

E. Kuster, Kantonale Mittelschule Uri

Lerne deine Wurzeln kennen

A. Schobinger
A. Schobinger

"Ein Schifflein fuhr im Mondenschein
ums Dreieck und ums Erbsenbein,
Vieleck gross und Vieleck klein,
der Kopf der muss beim Haken sein.

Der grösste Unsinn, zusammenhanglos aneinander gereihte Worte, mögen hierbei viele denken. Für mich ist dieser Reim aber ein Merkspruch für die Handwurzelknochen. Mit meinen Lateinkenntnissen gelingt es mir mühelos, die korrekten lateinischen Bezeichnungen aufgrund der deutschen Worte herzuleiten...

Wenn man seitenweise lateinische Worte lernen muss - wie dies in der Anatomie der Fall ist - so sind alle bekannten lateinischen Übersetzungen eine ernorme Hilfe",schreibt eine ehemalige Schülerin, jetzt Medizinstudentin der Universität Bern. Sie unterstreicht, wie zahlreiche andere Studentinnen und Studenten, den direkten praktischen Nutzen ihrer Lateinkenntnisse. Die Erleichterung im Aneignen ergibt sich durch das Verstehen des zu Lernenden. Das betont auch ein Jurastudent, der auf die Bedeutung des grenzüberschreitenden; Verstehens in seiner Wissenschaft hinweist: "Viele Rechtsfiguren, die wir heute verwenden, sind seit der Renaissance aus dem römischen Recht übernommen worden. So wirkt die römische Rechtsdogmatik bis heute fort. Dies hat einen sehr grossen Einfluss auf die Terminologie, deren sich Juristen in aller Welt über die Grenzen nationaler Rechtsordnungen hinweg bedienen. Prägnante Kurzformeln wie actio libera in causa oder mater semper certa tauchen in der juristischen Diskussion immer wieder auf und ersparen langatmige Umschreibungen." Deutlich mehr als diesen praktischen Nutzen sieht ein Wirtschaftsstudent der Hochschule St.Gallen: "Das Lateinangebot an der Mittelschule sehe ich als Chance an, zu der man so einfach und so billig nirgends kommt... Man darf nicht vergessen: Der Lateiner weiss nicht viel, aber etwas mehr als die andern; dieser Vorteil ist nicht zu unterschätzen." Was meint der Schreiber wohl damit? Im weiteren Text seines Briefes wird es deutlich, wenn er von "Horizonterweiterung" spricht. Horizont ist ein griechisches Wort und heisst auf Deutsch Grenzlinie. Die Grenzen des hic et nunc werden zurückgeschoben auf die Herkunft, die Wurzeln dieses hic et nunc. Und da wären wir wieder beim Verstehen. "Nosce te ipsum" heisst die lateinische Form des den sieben Weisen zugeschriebenen griechischen Aufrufs. Etwas bescheidener könnten wir sagen: "Lerne deine Wurzeln kennen!" Wollen wir in Zukunft darauf verzichten?

"Unterricht und Bildung ist das Gegenteil von Propaganda, denn da will man nicht zweckgerichtet von etwas überzeugen, man will vielmehr in andern Erlebnisse auslösen, die dazu führen, dass der andere mehr er selbst wird." (Jeanne Hersch)

A. Schobinger

Latein? - Natürlich Latein!

R. Surbeck, Basel

Argumente für das Latein im Lichte von verbreiteten Meinungen und Vorurteilen

Latein - eine tote Sprache?

Latein - so heisst es - sei eine tote Sprache. Mag sein! Doch hat sie eine Menge höchst lebendiger und attraktiver Töchter: Spanisch, Französisch, Portugiesisch, Italienisch, Rumänisch. Da sind immerhin einige Weltsprachen darunter. Von Català und Rumantsch wollen wir gar nicht reden.

Sprachen gelten als lebendig, wenn sie gesprochen werden. Sprachen sind auch lebendig, weil sie sich entwickeln. Die genannten Sprachen haben sich aus dem Latein entwickelt, und sie entwickeln sich weiter. Diese Entwicklung zu durchschauen ist oft nicht einfach. Das Latein erleichtert dies, weil seine Entwicklung abgeschlossen ist. Während man "lebende" Sprachen vor allem lernt, um sie zu sprechen, also um sie anzuwenden, kann es wichtig sein, einer Sprache auf den Grund zu gehen, ihre Bausteine zu kennen und ihre Gestaltungsprinzipien im Grammatischen, Syntaktischen und Inhaltlichen zu durchschauen. Dafür ist Latein besonders geeignet.

Wer eine Sprache lernen will, um sie möglichst rasch und fliessend sprechen zu können, besucht Sprachkurse oder lebt eine gewisse Zeit im betreffenden Land. Wer Sprachen durchschauen will, lernt Latein. Heute erst recht, denn man erwirbt dabei die Fähigkeit, sprachliche Strukturen erst richtig zu erkennen - eine Fähigkeit, die sich auf jede Spracharbeit übertragen lässt.

Zudem können wir, abseits der Hektik der gesprochenen heutigen Sprachen mit ihren aktuellen Inhalten, diese Sprache in Ruhe betrachten und analysieren.

Latein ist somit insofern lebendig, als es ein taugliches Modell darstellt, um Sprache an sich zu lernen. Es ist aber kein abstraktes Konstrukt, sondern eine Sprache, die über Jahrhunderte hin lebendig und verbreitet war. Es war die einstige Weltsprache und ist darum voller lebensnaher Inhalte - auch so lebt sie noch immer.

Es lohnt sich, die ehrenwerte Mutter der vielen Töchter zu kennen, denn man lernt von ihr vieles über diese selbst, nicht zuletzt, warum sie sich gleichen - und doch nicht identisch sind.

Latein ist eine logische Sprache

Latein ist als Sprache nicht logischer als andere Sprachen. Es hat aber eine Reihe von Eigenheiten, welche das erwähnte Durchschauen von Sprache leichter macht, als es bei den Töchtern des Lateins oder im Englischen möglich ist: Das System der Fälle und Fallfunktionen, das Konjugationssystem, die Vielfalt der Nebensätze und ihre Stellvertreter (Partizipialkonstruktionen u.ä.), das Fehlen der Artikel etc. lassen Erkenntnisse zu, welche in der Muttersprache oft nicht leicht fassbar sind oder die in modernen Sprachen wegen der andersartigen Lerntechnik übergangen werden.

Latein regt zum genauen Beobachten und Nachdenken an - aber mit Logik allein kommt man ihm nicht bei. Es braucht eine gehörige Portion sprachlicher Kombinationsfähigkeit und Kreativität, um Latein zu verstehen. Das ist etwas, was wir alle brauchen.

Das Latein legt seine Bausteine offener dar als andere Sprachen, es behält sich aber auch manche Unlogik vor, nicht zuletzt im Inhaltlichen. Diese aufzuspüren fördert unser Sprach- und Denkvermögen.

Übersetzen aus dem Latein: Wozu? Es ist ja alles schon übersetzt!

Gewiss, fast alles ist längst übersetzt, meist mehrfach und sehr gut.

Doch die Übersetzungstätigkeit ermöglicht es, die eigene Ausdrucksfähigkeit zu überprüfen und laufend zu verbessern. Die Übersetzung literarisch wertvoller Texte leistet einen entscheidenden Beitrag, die Muttersprache (und andere moderne Sprachen) besser zu kennen, weil man deren Ausdrucksmöglichkeiten vermehrt überdenkt. Um richtig übersetzen zu können, muss man zudem die Inhalte erfassen; man muss also den Texten in jeder Weise auf den Grund gehen.

Latein war die Sprache von Imperialisten

Ja - aber wie ist das mit Englisch? Was heute das Englische, war vor 2000 Jahren das Latein.

Was trägt eine Sprache zum Imperialismus, oder sagen wir lieber: zur Ausbreitung einer Zivilisation, bei? Wie bestimmend wirkt sie als kultureller Faktor, wo möglich als alles gleichmachendes Element? Das Problem erleben wir heute hautnah. Es zu überdenken und zu untersuchen ist also ganz modern. Das Latein bietet auch hier Einblicke. Eine kritische Betrachtung dieser Problematik ist im Lateinunterricht nicht verboten, sondern erwünscht.

Die Ausbreitung der römischen Zivilisation hat dazu geführt, dass wir bis heute von der Antike mitgeprägt sind - nicht nur in Europa. Vieles ist zu unserer Tradition geworden. Traditionen sollte man kennen, um die Gegenwart besser zu verstehen, auch um sie bewusst von der Tradition abzusetzen.

Wer Latein lernt, lernt bewusst mit der Vergangenheit umzugehen und versteht - hoffentlich! - dadurch auch die Gegenwart besser. Nicht alles lässt sich aus dem Heute erklären. Fehlender Hintergrund, fehlende historische Tiefe führt zu Fachidiotentum, welches sein Selbstverständnis nur aus der eigenen Tätigkeit ableitet. Wie sagte schon Cicero? Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt, geschehen ist, heisst immer ein Kind bleiben. Was wäre denn das Leben der Menschen, wenn es nicht durch Geschichtskenntnis mit früheren Zeiten verknüpft wäre?

Sprache ist eine Form der Geschichte. Dank der Sprache lernen wir das Denken und Fühlen anderer Menschen in einem ganz bestimmten Umfeld kennen. Mit Latein (und eventuell Griechisch) sogar das einer zentralen und lange bestimmenden Kultur.

Latein nützt nichts

Nein - mit Latein können wir in Rom keinen Kaffee bestellen. Und im Gegensatz zu langen Jahrhunderten der europäischen Kultur kann und wird man heute kaum mit Zeitgenossen lateinisch diskutieren oder korrespondieren.

Der Nutzen des Lateins liegt nicht auf der Hand, wie wenn man Englisch lernt - das kann niemand bestreiten. Die beschriebenen Fähigkeiten zeigen, was Latein nützen kann, auch wenn sich dies - scheinbar - nicht messen lässt. Immerhin haben Tests und Untersuchungen in den USA gezeigt, dass Kinder, die Latein lernen, sehr rasch auch in andern Fächern verbesserte Leistungen erbringen. Auch ist der Langzeitnutzen ebenso wertvoll wie sofort anwendbares Können. Je kürzer die Zeitspanne wird, in der sich heute dieses anwendbare Können und Wissen erneuert, um so wichtiger mag es sein, Fähigkeiten zu besitzen, die nicht dem jeweils gültigen Trend unterliegen. Um Computerprogramme zu beherrschen, ja zu entwickeln, braucht man die alten Sprachen nicht. Wenn man aber das, was man dabei tut und auslöst, überdenken und besser verstehen will, kann einem historische Tiefe helfen. Mit den alten Sprachen hat man, selbst wenn man viele Details rasch wieder vergisst, "etwas fürs Leben".

Nur am Rande erwähnt sei, dass Latein für die meisten Studien im Phil. I-Bereich (Sprachen, Geschichte etc.) obligatorisch ist - hier nützt es also direkt.

Wozu das intellektuelle Argumentieren? - Ich will Fun!

Sei doch ehrlich - und ergänze: "... und möglichst bald viel Geld verdienen".

Kehren wir den Spiess um: Wer Latein lernt, hat nicht weniger Chancen, zu seinem Geld zu kommen.

Es wäre auch zu fragen, ob Fun ein, ja gar das Lebensziel sein soll - doch wir wollen nicht moralisieren!

Die vertiefte Beschäftigung mit Sprache, mit früheren Kulturen, mit dem (durch die Römer vermittelten) Denken der Griechen kann Vergnügen bereiten. Warum besichtigen heute Abertausende von Touristen die griechischen und römischen Überreste? Warum ziehen "Römertage" unzählige Schaulustige an?

Die Beschäftigung mit den alten Sprachen verlangt Durchhaltevermögen im Geistigen und den Willen, nicht bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben. Dieses Training - im Sport und beim Erlernen eines Musikinstrumentes selbstverständlich - kann grosse Freude bereiten. Beharrlichkeit gerade auch in Dingen, die man nicht unbedingt "braucht", ist eine der menschlichen Hauptfähigkeiten. Fördern wir sie! Fun allein wird rasch fad und muss immer noch weiter gesteigert werden. Leisten wir uns dafür den Spass an den alten Sprachen! Steigern wir Fähigkeiten, die uns lebenslang weiterhelfen können! Die alten Sprachen, Latein und Griechisch, sind ein möglicher Weg dazu.

R. Surbeck, Basel

Spielt Ihr Kind ein Musikinstrument?

T. Wirth, Zürich

Aus einem Dialog zwischen einer Altphilologin und einem Elternpaar:

Die Eltern: "Was kann denn der altsprachliche Unterricht unserer Tochter bringen?"
Die Gegenfrage der Lehrerin: "Lernt Ihre Tochter ein Musikinstrument?"
Die Eltern, verdutzt: "Ja, warum?"
Die Lehrerin: "Will sie Musikerin werden?" - "Nein." - "Warum macht sie's denn?" - "Ohne Musik ist das Leben nur halb, das gehört doch zu uns Menschen."

Was haben die alten Sprachen damit zu tun?

Die Lehrerin zielte mit dieser Frage nicht auf die - eigentlich auffällige - Tatsache, dass sehr viele junge Menschen, die eine oder beide alten Sprachen an einer Mittelschule belegen, gleichzeitig ausgezeichnete Musikerinnen und Musiker sind und intensiv an ihrem Instrument arbeiten. Nein, sie meinte etwas anderes.

Musik und alte Sprachen haben eine ganz grosse Gemeinsamkeit: Man braucht beide nicht. Man lebt auch ohne, übrigens genau so gut wie ohne das Fach Zeichnen; und Hand aufs Herz: Was brauchen Sie von der Mathematik in Ihrem Leben, wenn Sie nicht beruflich damit zu tun haben - abgesehen von den Grundoperationen? Oder von der Physik? Oder, im Gegenzug, vom Literaturunterricht in Deutsch, Französisch, Englisch? Oder, oder...

Vermutlich werden Sie mir antworten, dass erstens ein junger Mensch meist gar noch nicht sicher weiss, was er dereinst als berufliche Ausbildung wählen werde, also müsse er im Gymnasium eine breite Grundausbildung erhalten; die Konsequenz aus meiner obigen Darstellung wäre zweitens eine Rudimentärausbildung und damit zwar eine wirksame Sparübung, aber sonst ein Jammer: für den jungen Menschen mit seinem engen, "bildungsfreien" Horizont und für die Zukunft der akademischen Ausbildung. Mit beidem einverstanden - aber genau die gleichen beiden Gründe sprechen auch für die Wahl der alten Sprachen, und dies sei im Folgenden skizziert; ich will meine Überlegungen so gliedern, dass ich die alten Sprachen in ihrem Verhältnis zu den anderen Fächern darstelle und dabei die genannten beiden Gründe heraushebe.

Der altsprachliche Unterricht und die anderen Fächer haben gemeinsame Ziele

Alle Fächer streben einen gemeinsamen "Nutzen" an: Sie wollen die Studierfähigkeit gewährleisten; dazu gehören so banale Dinge wie die sog. Arbeitstugenden der Gründlichkeit und Ausdauer, des Hörenkönnens auf andere; es gehören dazu eine ausreichende Denkfähigkeit und ein Wissen über das Denken, ebenso eine genügende Sprachfähigkeit. Im altsprachlichen Unterricht werden diese Fähigkeiten intensiv geschult: Die exakte Arbeit an und mit der Sprache entwickelt sprachliche sowie denkerische Präzision und Unterscheidungsfähigkeit; logisches Wissen und Können wird vermittelt (Definitionen, Schlüsse, hypothetisches Denken); die Differenziertheit der eigenen Sprache wird gefördert durch Reflexion über Sprache und, typisch für den altsprachlichen Unterricht, durch die anspruchsvolle und facettenreiche Tätigkeit des Übersetzens.

Zum Nutzen "Studierfähigkeit" gehören aber auch Dinge, die man ebensogut unter "Bildung" subsumieren könnte - und die zeigen, wie nutzlos eine solche Aufteilung zwischen "Nutzen", "Bildung" und "Sinn" oder "Wert" letztlich ist: das Wissen um die Geschichtlichkeit des Wissens, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst. Und wenn man unter Bildung das Kennenlernen, Prüfen und Aufnehmen anderer Denk- und Lebensmöglichkeiten, die den eigenen Horizont weiten, versteht, dann bietet der altsprachliche Unterricht, der die historischen Fundamente unserer westlichen Kultur zum Thema hat, die Grundlage für die geistige Auseinandersetzung in vielen anderen Fächern. Dass der altsprachliche Unterricht ein stark interdisziplinär ausgerichteter Unterricht ist, ergibt sich daraus.

Sprache als Bildungsgegenstand: Der altsprachliche Unterricht bietet einen Sprachunterricht "mit Hintergrund"

Das wohl wichtigste Instrument der Menschen, die Sprache, wird meistens nur auf seine Verwendung hin unterrichtet, auf die mündliche und schriftliche Kommunikation. Zusätzlich zu wissen und zu verstehen, wie es an sich funktioniert, welches die Gesetzmässigkeiten dieses zentralen menschlichen Bereiches sind, das ist ein hoher Bildungswert. Der altsprachliche Unterricht kann ihm gerecht werden und zugleich die modernsprachlichen Fächer entlasten. Ausserdem leistet der altsprachliche Unterricht hier den anderen Fächern, insbesondere den Sprachfächern, nützliche Dienste, sofern er früh genug einsetzt (einer der Pluspunkte des Langgymnasiums, der von den Schulbehörden leider immer weniger eingesehen wird): Ein sinnvoll konzipierter modernsprachlicher Unterricht kann von einem sinnvoll konzipierten altsprachlichen Unterricht sehr viel direkt profitieren, man denke etwa an die Funktionen der Vergangenheitstempora in den romanischen Sprachen (z.B. im Französischen: die Differenzen zwischen imparfait und passé composé bzw. passé simple).

Worum geht es? Bei einem modernen Sprachunterricht um mehr als um die blosse sog. formale Bildung, wie immer wieder kurzgeschlossen wird. Es geht einmal um sprachtheoretische Einsichten: Wie funktioniert Sprache? Das bedeutet mehr als nur ein grammatikalisches Gerüst gelernt zu haben (aber dieses wird auch gelernt!); es geht etwa darum, das Verhältnis von Form und Funktion zu kennen und fruchtbar zu machen (vgl. oben zu den Vergangenheitstempora), Einsichten zu besitzen in die Gesetzmässigkeiten der Entwicklung von Sprache (in die Prinzipien von Lautgesetz und Analogie, in die Abläufe bei Neuerungen in Wortbildung und Wortbedeutung) und damit die Geschichtlichkeit von Sprache erfasst zu haben, oder zu wissen, dass, warum und wie Sprachen sich beeinflussen.

Es geht im Weiteren um sprachphilosophische Grundeinsichten: dass jede Sprache die Welt auf ihre eigene Weise erfasst, es geht um den Zeichencharakter der Sprache, um die prinzipielle "Unmöglichkeit" von Übersetzung - und um die Folgen; oder es geht um die Abhängigkeit einer Antwort von der vorausgegangenen Frage: Jede Fragestellung beinhaltet automatisch eine Vorselektion sinnvoll möglicher Antworten - eine Tatsache, die nicht nur im sprachlichen, sondern auch im naturwissenschaftlichen Bereich grosse Bedeutung hat: in der Planung und Anlage wissenschaftlicher Experimente.

Aus all dem wird auch einsichtig, warum die Universitäten für fast alle Sprachstudien und für viele andere phil. I-Studiengänge ausreichende Latein- oder Griechischkenntnisse verlangen; wer sie nicht vom Gymnasium mitbringt, muss sie zu Anfang des Studiums erwerben und in einer Prüfung ausweisen. Das kostet viel Zeit und Mühe. Man hätte sie sich sparen können.

Sprachtheorie, Sprachphilosophie - es mag alles abstrakt klingen; aber sehr viele Schülerinnen und Schüler entwickeln, wenn sie einmal auf den Geschmack gekommen sind, einen ungeahnten Spürsinn und oft hervorragende Fähigkeiten auf diesen Gebieten. Besonders erfreulich ist, dass sich hier gerade auch die jüngeren Schüler auszeichnen.

Es ist leider ein Grundfehler in manchen altsprachlichen Zielsetzungsdebatten, dem Sprachunterricht nur die untergeordnete Rolle der Vorbereitung des "eigentlichen Fernziels", der Lektüre antiker Literatur in der Originalsprache, zuzusprechen.

Das Eigene des altsprachlichen Unterrichts

Ein scheinbarer Widerspruch zum Voraus: Wenn es um das Eigene des altsprachlichen Unterrichts gehen soll, dann muss ich als Ausgangspunkt ein grundsätzliches Faktum nennen, das für die anderen Fächer ebenfalls die Grundlage ist und sie so zusammenbindet: die Geschichtlichkeit der Menschen und ihrer Leistungen. Alles, was uns umgibt, ist Vergangenheit, oft nahe Vergangenheit, aber oft auch sehr ferne; und faszinierend ist die Erkenntnis, dass wir selbst Vergangenheit sind: "Die Genetik ist der Schlüssel zur Vergangenheit. ... Jedes Gen ist eine Botschaft unserer Vorfahren, und alle miteinander enthalten sie die gesamte Geschichte der Evolution des Menschen. Jeder ist ein lebendes Fossil und trägt Aufzeichnungen in sich, die bis zu den Anfängen der Menschheit und viel weiter zurückreichen." So sagt es uns die Biologie (Steve Jones, The Language of the Genes); aber auch unsere Sprache, unser Denken haben eine Dimension historischer Tiefe von ungeahntem Ausmass; man kann darin lesen wie in einem Bilderbuch und spannende Entdeckungen machen - sofern man dies einmal entdeckt hat, und junge Menschen sind auch hier sehr fähig. Bildung heisst daher auch, sich der eigenen Geschichtlichkeit bewusst zu werden und für sich daraus Konsequenzen zu ziehen.

Bezogen auf die Antike heisst das nun: Ob wir es wahrnehmen oder nicht, die Antike lebt um uns herum und in uns - und sie wird weiterleben, ob wir es wollen oder nicht. Und: Als früheste noch heute relevante Epoche ist die Antike auf sehr vielen und sehr verschiedenen Gebieten die Initialepoche der europäischen Kultur; hier muss man zu verstehen beginnen, wenn man das Heutige verstehen will. Ich habe vor kurzem ein grösseres Projekt "So viel Altertum um uns herum" mit dreizehnjährigen Anfangslateinern durchgeführt; von den Besuchern unserer Ausstellung hörte man fast nur eines: "Alles, was wir heute haben und benützen, ist ja lateinisch und griechisch!" Selbstverständlich wissen wir alle, dass dem nicht so ist; aber die unerwartete Konfrontation mit den ungezählten Fakten kann solche Reaktionen auslösen.

Den Rest meiner Überlegungen soll eine Anzahl von Beispielen bilden.

Um wieder mit der Sprache beginnen, unserer deutschen Muttersprache: Man kann sie einfach gebrauchen, sprechen, oder ihre Strukturen untersuchen und kennenlernen, oder man kann sie auf ihre Geschichte hin untersuchen, eben auf die historische Dimension hin, und damit beginnt das Bilderbuch, beginnen die Entdeckungen. Unser Deutsch ist voll von griechischer und lateinischer Vergangenheit und somit Gegenwart. Besonders deutlich wird dies im Wortschatz: Ungezählte Wörter in Architektur (!), Agrikultur (!), Medizin (!), im geistlichen und geistigen Leben sind antike Lehn- oder Fremdwörter, von fenestra, murus über pirum, cerasum, vinum und archiatros (Arzt), bakterion bis episkopos, domus und politike, demokratia. Die Einflüsse gehen über die Wörter hinaus und betreffen auch die grammatischen Strukturen unserer Sprache; entscheidend aber ist für die Schüler zu erkennen, warum diese Beeinflussung des Deutschen durch das Griechische und Lateinische geschah und auf welchen Bereichen und wieso gerade auf diesen; so werden Gesetzmässigkeiten sprachlicher und kultureller Veränderung sichtbar, die für alle Sprachen gelten - einst auch für das Altgriechische, das Latein, und heute für die modernen Sprachen mit ihrer Beeinflussung durch das Amerikanische.

Wie breit und vielfältig ist die Antike in unserem heutigen Denken präsent! Man soll den jungen Menschen zeigen, wie unsere von wissenschaftlichem Denken und von den Wissenschaften so geprägte moderne Welt letzlich eine altgriechische Weichenstellung zur Voraussetzung hat, dass Fragen, aber auch gewisse Antworten und Methoden aus altgriechischer Zeit leitend geworden und heute bedeutungsvoll sind; es ist nur folgerichtig, wenn die Wissenschaftssprachen griechisch/lateinisch basiert sind und ein ehemaliger Latein- oder Griechischschüler beim Erlernen der heutigen wissenschaftlichen Fachbegriffe dank seinen Vorkenntnissen unerwartet grosse Vorteile hat (nicht nur in Geisteswissenschaften, sondern insbesondere in Naturwissenschaften oder Medizin). - Nicht minder wichtig ist das antike politische Denken für die Neuzeit geworden. Das Verhältnis von Staat und Individuum, die Staatsformen wie die Demokratie, Grundfragen des politischen Geschehens und der Macht waren in der Antike so bedeutende Themen und wurden auch theoretisch so weit entwickelt, dass sie für die Neuzeit wegweisend wurden; ja es kam zu direkten Übernahmen antiker Institutionen bei der Schaffung neuzeitlicher staatlicher Institutionen. - Die grossen philosophischen Gebiete waren antike Zentralthemen: die Logik, die Erkenntnistheorie und ganz speziell die Ethik mit ihren heute so drängenden Fragen nach den Werten, der Freiheit, dem Guten; eine hinreichende Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist ein Bedürfnis jeder Zeit und damit für moderne junge Menschen sehr hilfreich. Hier liegt wohl einer der Gründe, warum vor einigen Jahren in einer Umfrage unserer Schule die Ehemaligen und die damaligen Maturanden Latein und Griechisch zusammen mit Geschichte und Chemie am häufigsten als diejenigen Fächer nannten, die ihnen bleibende Eindrücke und Anregungen vermittelt hätten.

Die Auseinandersetzung mit diesen grundeuropäischen Themen findet im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit entsprechenden Originaltexten statt, mit einer hochentwickelten Literatur, zu der untrennbar auch die antike Dichtung und bildende Kunst gehört. Literatur als absichtsvoll gestalteter Text kann nur in der Originalsprache hinreichend erfasst werden, und die dazu nötigen Kenntnisse künstlerischer Formgesetze werden in einem anspruchsvollen altsprachlichen Unterricht intensiv vermittelt. Und weil neue Literatur und Kunst seit je und immer in Auseinandersetzung mit vorangegangener Literatur und Kunst entstanden ist und entsteht, gründet die Literatur und Kunst in den Ländern der europäischen Sprachen letztlich in der griechisch-lateinischen Literatur und Kunst: Wer sich mit europäischer Literatur und Kunst beschäftigen will, benötigt Kenntnisse in antiker Literatur und Kunst, Kenntnisse ihrer Inhalte und ihrer Wirkungen - ein zweiter Grund, warum die Universitäten für viele Studien eine Latein- oder Griechischausbildung verlangen.

Die vorangegangenen drei Abschnitte könnten Aussenstehenden als trockene Aufzählung erscheinen: "zu viele Worte" - wie die "zu vielen Noten", von denen der Kaiser gegenüber Mozart sprach. Für Notenblätter und Textblätter gilt aber in gleicher Weise: Wer mit Engagement, Intensität und Kreativität an ihnen arbeitet, für den beginnen sie zu leben, zu klingen. Bildung bedeutet ja auch Überwindung des eigenen beschränkten Horizontes, Kennenlernen und Prüfen und Aufnehmen anderer Denk- und Lebensmöglichkeiten ("Bildung ist die Sicherung der Emigrationsfähigkeit", gemeint "aus der nur noch versachlichten oder nur noch fortschrittsgeschichtlichen Welt": Odo Marquard); griechische Lebensvielfalt und Vitalität, antike Denk- und Lebensmöglichkeiten, Begriffe wie Mass, Mitte, Selbstbescheidung oder eine sehr andere Auffassung von Freiheit können unversehens für die eigene Lebensgestaltung fruchtbar werden, und die Menschenbilder eines Herodot, der griechischen Tragödie, von Lukrez, Horaz oder Augustin werden zum eigenen geistigen Besitz mit einer grossen Langzeitwirkung - zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der persönlichen Umgebung.

T. Wirth, Zürich