Ätna 2000

DIE GOLDENE SÄULE
von Marco Fulle
(verfasst am 17. Feb. 2000; Übersetzung Tom Pfeiffer))

Wir sind zu fünft hier an der Torre del Folosofo, die Sonne ist gerade untergegangen und der majestätische Schatten Etnas hoch über dem Aspromonte Calabriens hat uns gerade noch noch einen letzten Gruss gesandt hat. Jetzt ist es schon fast dunkel, und wir, am Ende unserer Kräfte, sind ausgelaugt von 6 Stunden Ausharren im unermüdlich stürmenden, eisigen Nordwind. Die Situation lässt mich an so einen Witz denken, der von einem Italiener, einem Franzosen, einem Engländer und einem Deutschen zusammen in einem Flugzeug handelt. Tatsächlich sind wir nämlich in einer Art unbeheizten, offenen Flugzeug, umgeben vom Gegenteil des ewigen, einladenden sizilianischen Sommers. Ich frage mich schon seit geraumer Zeit: was machen wir hier eigentlich, mitten im Eis? Ich bin hier mit Tom, der gerade seine Laufbahn als Vulkanologe beginnt, David, einem englischen Filmemacher, perfekt mit allem zum Drehen eines Dokumentarfilms ausgestattet, Thorsten, einem deutschen free-lance Fotografen, und einem französischen Fräulein, das zwar ein französisches Fräulein zu sein scheint, aber in Wirklichkeit ein Engel ist, der zu uns vom Himmel herabgekommen ist, um uns die Frohe Botschaft zu verkünden. Die Botschaft, die uns fesselt, ist, dass der Süd-Ost Kegel, der majestätisch einen Kilometer entfernt über uns thront, nun schon seit mehr als 24 Stunden schläft: Wenn er erwacht, müsste Unerhörtes geschehen.

David, als eingefleischter Profi, erklärt uns, er würde sich nicht eher vom Fleck rühren, bis er den nächsten Ausbruch in seine Videokamera gefangen hätte. Da flüstere ich zu Tom: «Dieser David ist ein Pechbringer,- so kann man man mit Etna nicht umgehen...» Wir lachen uns ins Fäustchen, und sind uns jetzt sicher, unser Ziel heute nicht mehr erreichen zu können. Wir beschliessen also, lieber so bald wie möglich dieser Eiseskälte zu entfliehen, und in der Hoffnung auf mehr Glück in den nächsten Tagen beginnen wir, unsere Rucksäcke zu packen, als sich der Engel anschickt, mit einem mehr und mehr überrascht wirkenden Tom zu sprechen. Ich frage Tom, was sie sagt. «Sie meint, dass die Fumarolen in der Spalte des Süd-Ost Kegels stärker werden, genau wie vor dem letzten Ausbruch». Ich schaue nach, doch kann mein erfahrenes Auge nichts Neues ausmachen. «Und wie lange dauert's noch bis zur nächsten Eruption?» Tom redet weiter mit dem ekstatischen Engel, dann dreht er sich ungläubig zu mir um: «Sie sagt, in einer Viertelstunde geht's los». Die Blicke zwischen Tom und mir könnte man wohl folgendermassen übersetzen: «Die Glückliche, wenn sie daran glaubt...» «Und was sollen wir tun?» - «Na ja, nachdem wir 6 Stunden umsonst gewartet haben, können wir jetzt ja auch noch eine halbe Stunde dranhängen...»

Wir warten, und tatsächlich scheinen die Fumarolen jetzt stärker zu rauchen... ist das möglich? Ich laufe weiter auf und ab, um mich warm zu halten. Aber was sehe ich, während ich mit dem Gesicht zum Süd-Ost Krater herumhüpfe! Rotglühende Brocken tauchen auf einmal im Krater auf und beginnen da herumzutanzen! «Es geht los! Es geht los!» Ich laufe, alle laufen wir zu unseren Fotoapparaten, aber 10 Minuten lang würdigt uns der Süd-Ost Krater nur solcher schwacher strombolianischer Explosionen. Fast wütend denke ich: «Ist das alles?» Aber mein schwaches Vertrauen beschämt mich augenblicklich: auf der Spalte, die auf der Südseite des Kegels gähnt, entspringt ein gelber, goldener Spritzer aus Lava, der sofort zu einem kleinen Springbrunnen wird. Dieser speist einen flüssigen Lavastrom, der schnell, sicher mehr als 5 m/s, die Flanke des Kegels herunterläuft. In der Zwischenzeit erheben sich aus dem zentralen Krater gelbe Fontänen, die binnen Sekunden zu 20, 50, 100, 300 Metern Höhe heranwachsen, mächtige, gelbe Fluten aus goldenem Honig. Ist es möglich? Möglich? Möglich? Das Tempo, mit dem sich das alles ereignet, mit dem sich dieser stumme, tote Berg in einen Gott in Aktion verwandelt, lässt mich erschüttert in ein unbedeutendes Nichts verwandeln.

Ich drücke wie verrückt auf den Auslöser, freihändig, im Wind, und ohne viel Hoffnung auf gute Bilder, und die Lava ist so hell, dass man gegen alle Vernunft mitten in der Nacht Expositionswerte wie am Tag verwenden muss. Die Fontänen werden jetzt immer noch stärker und der Lavastrom hat bereits den Fuss des Kegels erreicht. Da erhebt sich plötzlich ein andersartiger, zu uns geneigter Strahl. Es ist, als ob der Vulkan sich seine Eingeweide erbräche, um aus voller Kehle brüllen zu können. Ich weiss nicht mehr, wie ich verstehe, dass dieser Stoss genau au uns gerichtet war; ich reisse die Kamera an mich und renne unter das Dach der Torre del Filosofo, schreie «In Sicherheit!» und muss wohl überzeugend genug gewesen sein, denn in wenigen Sekunden sind wir alle 5 dort drunter. Noch 10 Sekunden, und dumpfe Aufschläge von Blöcken auf das Dach sind zu hören. «Jetzt kann alles passieren», denke ich, und drehe mich um. Rings um uns herum sehen wir Dutzende von brennenden Bomben herabstürzen, die beim Aufprall im Schnee in tausend glühende Stücke zersplittern. Doch bald lässt schon das Bombardement auf das Dach nach, hört auf und ich weiss «Nein, jetzt geschieht uns gar nichts mehr».

David und Thorsten sind schon draussen, schauen nach oben, -ganz nach oben-, und sind wie versteinert. Denn genau wie Pindar es uns beschrieben hat, erhebt sich eine Säule aus Gold vom Boden, das heisst, vom Süd-Ost Kegel, bis zum Zenith gen Himmel, um den Himmel zu halten! Dort oben im Himmel teilt sie sich aber in unzählige, goldene Bomben, die die Natur eigentlich zu uns bestimmt hat. Doch Eolus, der mich weiter schüttelt und daran hindert, unverwackelte Bilder zu schiessen, erfasst sie mit seiner freundlichen Hand und trägt sie weiter nach Osten. 100 Meter von uns, zwischen der Torre del Filosofo und dem Süd-Ost Kegel, steht nun ein Vorhang aus tausenden glühenden Bomben, die auf den Schnee regnen. Ihr Aufschlagen ruft ein Prasseln hervor, das nur mit den heftigsten Platzregen des Sommers vergleichbar ist. Dieses Prasseln wird aber noch übertönt von einem dunklen, polternden Dröhnen, das vom Krater selbst kommt, welcher, noch immer rasend und brüllend, im zweifachen Rhythmus einer Sekunde laute Donnerstösse von sich gibt. Jeder einzelne Donner begleitet einen neuen Feuerimpuls innerhalb der goldenen Säule: bis zu 10 deren zähle ich in ihr hinauf bis im Himmel hoch über mir. Während die Säule selbst auf der linken Seite von den grössten Bomben umgeben wird, die sich nicht um den Wind kümmern, ist sie rechts halb versteckt hinter einer dichten, strudelnden, zum Mond aufjagenden Wolke, die unten aus schwarzer Asche und oben aus reinem weissem Wasserdampf besteht.

Während 10 unendlich langen Minuten, die ein ganzes Leben scheinen, stehen wir da in Extase und bestaunen wie Kinder den Turm aus Gold, der den Himmel an die Erde bindet. Nur das Wissen, dass es unmöglich ist, die Säule zu fotografieren, sei es wegen des heftigen Winds, sei es wegen der extremem Kontrastunterschiede zwischen dem blendenden Herz der Säule und den wunderbaren Schlieren aus Asche, die wirbelnd aufsteigen,- nur das macht mich nervös. Aber sofort wird mir bewusst, dass man nicht einmal versuchen darf, einen Gott zu fotografieren: und wie auch? Und wie auch sollte man dieses unbeschreibliche Tosen, oder den goldenen Bombenschauer auf den Schee festhalten? So schnell wie alles angefangen hatte, so schnell hört alles wieder auf. Binnen Sekunden fällt die Lavafontäne wieder in sich zusammen, als ob sie wieder in den Süd-Ost Kegel hineingesaugt würde. Bald ist ihre Höhe halbiert, und es bleibt gerade noch genug Zeit, die letzten erschöpften Explosionen und den Kegel selbst zu filmen, der jetzt eine einzige rotglühende Masse ist, die kaum zu unterscheiden ist vom Lavastrom, der immer noch am Fuss des Kegels auf einer Breite von 1 km vorrückt.

Jetzt, da alles vorbei ist, bleibt nur noch der glühende Kegel, der unsere Gesichter taghell erleuchtet. Ich drehe mich um zu meinen Freunden, schaue sie an. Oh,- man müsste alles dafür geben, nur um Menschen so glücklich zu sehen,- so glücklich, dass sie Zeus handeln sehen durften, ohne verbrannt worden zu sein, glücklich, Apollos glänzendes Angesicht gesehen zu haben, ohne den Verstand verloren zu haben, so glücklich wie Kinder, die überzeugt sind, das diese die beste aller Welten ist, wenn sie so etwas zu tun vermag. Thorsten greift zum Mobiltelefon, um von einer mehr als 1000 m hohen Fontäne zu berichten. David beginnt, ausser sich auf Gälisch zu schreien. Nur Tom bleibt regungslos und starrt immer noch auf den glühenden Kegel und, weit dahinter, auf den Weg, den er für den Rest seines Lebens verfolgen wird. Aber was wirklich unbeschreiblich ist, ist das Gesicht meines Engels, voll jener geheimnisvollen Freude, die nur wenige, glückliche Wissenschaftler kennen: jene Freude, ein Ereignis (und was für eins!) vorhergesagt zu haben, das auf die Minute genau eingetreten ist. Kaum wird mir dies bewusst, sehe ich, dass sie verstanden hat, dass ich verstanden habe: Unter allen Umständen musste ich jetzt eins tun. Ich laufe zu ihr hin, küsse sie, und brülle sie beinahe an: «Begreifst Du das? Begreifst Du, was für ein Geschenk Du uns gegeben hast?» Ich habe keine Ahnung, in welcher Sprache ich das gesagt habe, keine Ahnung, was sie verstanden hat... ich kenne nicht einmal ihren Namen, und werde sie nicht wiedersehen.