Verschiedene Verfahren zum Lösen von Extremalaufgaben

Verhältnis von "Reiner Mathematik'' und "Angewandter Mathematik''

Wie kann es geschehen, dass im Mathematikunterricht über Generationen hinweg Verfahren gelehrt werden, die nur in seltenen Ausnahmefällen zweckmässig und erfolgbringend sind? Der Hauptgrund liegt wohl in der traditionellen überbetonung abstrakter Aspekte in der Mathematik. Gerade im Bereich der Hochschulmathematik wird allgemeinen Notationen, Existenz- und Eindeutigkeitsbeweisen etc. grosses Gewicht beigemessen. Anwendungen sind oft geradezu suspekt! Dem Aspekt des Mathematik-Anwenders wird dabei zuwenig Bedeutung zugemessen. Gerade bei komplexen Problemstellungen aus der Praxis sind aufwendige Berechnungen heute aber oft unumgänglich. Aufgestellte Vermutungen werden aufgrund mathematischer überlegungen und Beweise erhärtet und führen so zu weiteren Einsichten und meistens auch neuen, noch offeneren Problemstellungen.

Ueber das Verhältnis zwischen "User-Mathematik'' und "Reiner Mathematik'' wurde immer wieder debattiert. Einen Niederschlag in den Mathematik-Lehrmitteln haben diese Diskussionen aber kaum gefunden. Die nachfolgende willkürliche Auswahl von überlegungen zu diesem "Dauerbrenner'' der Mathematikdidaktik soll illustrieren, dass es eigentlich nur noch an der konsequenten Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse mangelt.

In seinem Lehrmittel "Einführung in die mathematische Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen'' schreibt beispielsweise A. Walther:

Mathematische Beweise sind nur für denjenigen da, der das Bedürfnis nach ihnen empfindet. Die wenigsten Menschen wissen oder haben auch nur Interesse dafür, wie eigentlich die üblichen Multiplikations- und Divisionsregeln zustandekommen, und doch verwendet jedermann sie fortgesetzt und erspriesslich. ähnlich vermag man sehr wohl gewinnreich höhere Mathematik zu treiben, ohne die vom Laien so sehr gefürchteten Schlussketten mathematischer Herleitungen oder Beweise durchlaufen zu müssen. Es gibt eine höhere mathematische Einsicht, als sie das ziemlich wertlose Nachprüfen von Formeln o. dgl. bringen kann. Worauf es ankommt, ist: den eigentlichen Kern der Sache zu erfassen, die Sache selbst, nicht das Beweiswerk sich so klar und anschaulich zu machen, dass sie als völlig selbstverständlich erscheint, kurz: auf einen Standpunkt über der Sache zu gelangen. Nur vor einem hüte man sich dabei: versteckte Möglichkeiten zu übersehen, deren Ausschluss vielleicht gerade den eigentlichen Inhalt des mathematischen Beweises bildet.

Wer unerbittlich nach restloser Anschaulichkeit strebt, bleibt einerseits davor bewahrt, sich jenen ganz unmodernen, mystischen und in sich widerspruchsvollen Methoden aus der Frühzeit der höheren Mathematik vor reichlich 200 Jahren auszuliefern, welche leider gerade dem Naturwissensschaftler noch heute in vielen für ihn bestimmten "mathematischen'' Büchern dargeboten werden -- diese geben höchstens formale Fertigkeit, aber keine wirkliche begriffliche Erkenntnis. Zum anderen wird er dadurch befähigt, die Mathematik wirklich anzuwenden (wozu auch die beste Vertrautheit mit der, als Kunstwerk betrachtet, so wundervollen "reinen'' Mathematik nicht ausreicht).


Das 1. Kapitel des Lehrmittels von A. Walther trägt bezeichnenderweise den Titel "Was ist eine Funktion?''. Funktionen werden anschaulich und anwendungsorientiert eingeführt, ohne den in einer ersten Stufe überflüssigen abstrakten Ballast. Auch heute nach fast 70 Jahren würde sich dieses Lehrmittel weit besser als viele marktübliche Materialien für den
Unterricht eignen. Nur am Rande sei daraufhingewiesen, dass das Lehrmittel auch keine Strukturierung in Bereiche wie "Algebra'', "Geometrie'' oder "Analysis'' vornimmt.

1974 haben sich Nievergelt, Farrar und Reingold aus ihrer Sicht als Informatiker ausführlich zum Thema geäussert und auch diese Aussagen über das Verhältnis zwischen "User-Mathematik'' und "Reiner Mathematik'' dürften heute noch vollumfänglich gültig sein:

Second, mathematics curricula are changing. It has become increasingly apparent that we have been educating too many research mathematicians and not enough users of mathematics. A user of mathematics formulates problems, whether they may come from, in mathematical terms, and attempts to solve them by whatever means are available. Today, this frequently implies that a computer will be involved at some stage during the process of formulating and solving a problem.

In "Fundamentale Ideen der Angewandten Mathematik'' führen J. Humenberger und H.-Ch. Reichel eine ganze Reihe von Faktoren auf, warum sich die Anwendungsorientierung im Unterricht nicht generell etablieren konnte. Unter anderen werden angeführt:

Die übliche mathematische Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen befähigt diese nur bedingt zu einem genetischen, an Problemlösungen und Mathematisierungsprozessen orientierten Unterricht. Der Unterricht an der Hochschule ist geprägt durch den "fertigen Aufbau'' der Fachmathematik.

  1. Die meisten Lehrer und Lehrerinnen müssten sich eine Didaktik eines ausgewogenen, anwendungsorientierten Unterrichts zur Gänze selbst -- schon im Beruf stehend -- erarbeiten.
  2. Das System der Einzelstunden ist wenig förderlich für die Miteinbeziehung von aussermathematischen Anwendungen im Unterricht.
  3. Schulbücher enthalten oft nicht genug Beispiele und die meisten Lehrer und Lehrerinnen sind in Ermangelung anderer Literatur einfach überfordert, brauchbare Beispiele in ausreichendem Mass aufzutreiben.

Auf den Punkt bringt es Ch. Blatter im Vorwort zu seiner Ingenieur-Analysis:


Die Vorstellung war lange verbreitet, Ingenieur-Analysis sei im wesentlichen eine Sammlung von Rezepten zur Lösung von gewissen Standardaufgaben, und dem Dozenten obliege es in erster Linie, seinen Studenten diese Rezepte auf möglichst schonende Art beizubringen. Die betreffenden Skripten wurden dann von den Studenten als "Kochbücher'' bezeichnet. Demgegenüber wird hier dasdidaktische Konzept vertreten und durchgezogen, dass die Ingenieur-Analysis in erster Linie einen ungeheuren Vorrat von kraftvollen Begriffen zur Verfügung stellt, die zur Modellierung und nachfolgenden Analyse von realen (physikalischen, technischen, biologischen, ...) Situationen herangezogen werden können.